Roman

Im Visier des allmächtigen Geheimdienstes

Eine verzweifelte junge Frau hockt auf einem Bett. Im Vordergrund: Tabletten.
Beklemmende Szenen: Teile des Romans sind aus Abhörprotokollen zusammengesetzt © picture-alliance/ dpa - Maxppp Bertrand Bechard
Von Martin Becker · 14.11.2014
Dieses Buch liest man nicht, man wird von ihm überrollt: Eindrücklich schildert Viktor Martinowitsch im Roman "Paranoia" das Leben in einer Diktatur. So eindrücklich, dass es als erstes Buch überhaupt in seiner Heimat Weißrussland verboten wurde. Ohne Angabe von Gründen.
Der junge Schriftsteller Anatoli läuft an einem Café vorbei und sieht eine Frau. Ein einziger Blick nur, und er ist verliebt. Die Frau wiederum trinkt ihren Kaffee aus und steht auf. Sie ist gehetzt, springt in ihr Auto und rast davon. Anatoli merkt sich das Kennzeichen. Und findet heraus, dass die Frau offenbar für den Geheimdienst arbeitet. Aber was nutzt diese Erkenntnis, wenn man sein Herz ganz und gar verloren hat?
Anatoli und Jelisaweta sehen sich wieder. Und ja, sie verlieben sich ineinander, wie sich zwei Menschen nur ineinander verlieben können: "Lange gewartet?", fragt Anatoli die junge Frau bei ihrem allerersten Gespräch. "Mein Leben lang", antwortet sie. Das Problem dabei: Jelisaweta ist nicht irgendwer. Und "Paranoia" spielt nicht irgendwo. Der Protagonist fängt ausgerechnet mit der Geliebten des Staatslenkers Murawjow eine Affäre an. Und dessen - auf den ersten Blick - fiktiver Staat ist totalitär, ist eine brutale Diktatur, in der Menschen reihenweise einfach verschwinden.
Die schlimmste Paranoia wird zur Wirklichkeit
Natürlich ist das Paar sofort im Visier des schier allmächtigen Geheimdienstes, natürlich werden sie von der ersten Sekunde an verfolgt und müssen sich verstecken - schließlich verschwindet Jelisaweta, und die schlimmsten Paranoia des Schriftstellers Anatoli wird zur real existierenden Wirklichkeit.
Die Geschichte an sich ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist aber, was Viktor Martinowitsch, Jahrgang 1977, aus ihr macht. Seine Sprache, sein Rhythmusgefühl und sein Einfallsreichtum sind überwältigend. Diese Chronik einer angekündigten Paranoia liest man nicht, man wird von ihr überrollt. Denn Martinowitsch schreibt wuchtig und zärtlich, wild und originell zugleich.
Und es gelingt ihm, den Schmerz angesichts des Lebens in einer totalitären Diktatur vielschichtig abzubilden. Ein Teil des Romans besteht beispielsweise aus den Abhörprotokollen des Geheimdienstes. Die Liebenden werden in den Dokumenten nur "Gogol" und "Füchsin" genannt – und jedes kleinste Detail ihrer Amour fou wird protokolliert: "Die observierten Gogol und Füchsin erschienen um 18.36 Uhr, Wohnung mittels Schlüssel geöffnet. Um 18.45 Uhr wechselten sie ins Schlafzimmer (Mikrofon 1), von wo Lautäußerungen tierisch-heftigen Charakters zu hören waren. Um 19.30 Uhr begann das Gespräch."
Eine verdammt traurige Liebesgeschichte
Niemals wird explizit ausgesprochen, dass es sich bei dem Staat um ein Land handelt, das Weißrussland zumindest ähnelt. Dort wurde Viktor Martinowitsch geboren. Und doch spürt man, dass er genau weiß, wovon er schreibt. Das ahnten wohl auch die weißrussischen Behörden: "Paranoia" wurde im Heimatland des Schriftstellers verboten – als erstes Buch überhaupt. Ohne offizielle Angabe von Gründen.
"Paranoia" ist ein exzellenter Roman, den man einfach lesen muss: Einerseits, weil er die Mechanismen eines paranoiden Staatsapparats offenlegt, und zwar auf spannende Art und Weise. Andererseits, weil er eine Liebesgeschichte in einer Intensität erzählt, wie man sie nicht oft findet in der Gegenwartsliteratur. Eine verdammt traurige Liebesgeschichte noch dazu.

Viktor Martinowitsch: "Paranoia"
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Verlag Voland & Quist, Dresden 2014
400 Seiten, 24,90 Euro

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