Roman

Im Reich der vergänglichen Schönheit

Die Plaza de Cibeles in Madrid, Spanien um 1935
Die Plaza de Cibeles in Madrid, Spanien um 1935 © picture alliance / dpa / Foto: Díaz Casariego
Von Sigrid Löffler · 13.12.2014
Spanien kurz vor dem Bürgerkrieg 1936: Der Gärtner beobachtet die jungen Herrschaften bei ihrem munteren Treiben und erzählt davon. "Der Garten über dem Meer" von Mercè Rodoredavon ist eine Art katalanisches Gegenstück zu Scott Fitzgeralds "Großem Gatsby".
Die aus Barcelona stammende katalanische Erzählerin Mercè Rodoreda (1908–1983) ist im deutschen Sprachraum vor allem mit ihrem Hauptwerk "Auf der Plaça del Diamant" bekannt geworden. Nun erscheint ihr Roman "Der Garten über dem Meer" aus dem Jahr 1967 erstmals auf Deutsch, eine Art katalanisches Gegenstück zu Scott Fitzgeralds "Großem Gatsby". Darin zeichnet Rodoreda ein raffiniertes Bild einer verschwundenen Gesellschaft: Sie erzählt von den Vergnügungen und Liebeshändeln der katalanischen Jeunesse dorée aus Barcelona, reicher junger Müßiggänger, die ihre endlosen Sommerfrischen im Kreise ihrer Freunde in ihren Landhäusern und Gärten am Meer verbringen, mit Reiten, Schwimmen, Wasserskifahren, Malen und großen Festen. Die Zeit scheint stillzustehen: Es müssen die 1920er- oder frühen 1930er-Jahre sein, ehe der Spanische Bürgerkrieg solch paradiesischem Sommerglück für immer ein Ende machte.
Im Reich des Blühens und des Verwelkens
Die Raffinesse liegt im Blickwinkel, aus dem Mercè Rodoreda diese zeitenthobene, windstille Idylle erzählt – doppelt gebrochen durch soziale und zeitliche Distanz. Der Icherzähler ist der alte Gärtner, der sechs Sommer lang in seinem prekären Reich der vergänglichen Schönheit, des Blühens und des Verwelkens, den jungen Herrschaften bei ihrem munteren Treiben zusieht und sich lange Zeit danach wehmütig zurückerinnert an das, was er damals sah und hörte – oder zu sehen und zu hören glaubte – und welche Tragödie sich hinter dem heiteren Anschein wohl tatsächlich vollzogen haben mochte.
Der Gärtner ist der klassische unzuverlässige Erzähler. Er erinnert sich nicht mehr genau. Was er damals mitbekam, sind einzelne Szenen, Auftritte, kurze Wortwechsel und Blicke. Auch ziehen ihn die Herrschaften gelegentlich punktuell ins Vertrauen. Was aber tatsächlich vor sich ging, reimt er sich aus diesen bruchstückhaften Informationen zusammen, vornehmlich aus dem Dorfklatsch und aus dem Gerede der Dienstboten – Köchin, Zimmermädchen, Stallmeister.
Zerstörung des Sommeridylls
Mercè Rodoreda verhüllt das eigentliche Geschehen – einen doppelten Liebesverrat mit tödlichem Ende – hinter Schleiern aus Mutmaßungen, Sehnsüchten, Illusionen, Täuschungen und Selbsttäuschungen. Sie überlässt es dem Leser, sich aus diesem Geflimmer von Andeutungen sein eigenes Bild zu machen. Die Figuren behalten ihr Geheimnis, auch wenn allmählich die Tragödie zweier Paare in Umrissen erkennbar wird: Die Kleinbürgerkinder Eugeni und Rosamaria haben ihre Jugendliebe zueinander verraten, um jeweils anderweitig reich zu heiraten. Sie haben damit sich und ihre Partner unglücklich gemacht und zerstören am Ende das heikle Sommeridyll für immer. Eugeni ertrinkt: Unfall oder Selbstmord? Der Sommersitz, durch diesen Tod und seine verschwiegenen Implikationen entzaubert, wird verkauft. Die Gesellschaft verläuft und verliert sich. Zurück bleibt der Gärtner als Chronist und Geheimnisträger eines großen kleinen Romans, der die melancholische Schönheit einer versunkenen Zeit behutsam bewahrt.

Mercè Rodoreda: "Der Garten über dem Meer"
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Hrsg. und mit einem Nachwort von Roger Willemsen
Mareverlag, Hamburg 2014
240 Seiten, 26,00 Euro