Roman

Familiengeheimnisse

Großmutter, Mutter und Tochter
Wer ist nun mit wem verwandt? © imago
Von Ursula März · 11.06.2015
"Wie wir älter werden" erzählt von zwei Schweizer Familien, deren Kinder lange Zeit nicht ahnen, dass sie biologische Halbgeschwister sind. Die Schriftstellerin Ruth Schweikert porträtiert zwei Paare, die in den 60er-Jahren einen Schweigepakt schließen.
Familie ist, wo Kinder sind - hören wir in diesen Tagen immer mal wieder. Stimmt das? Sicher ist, dass die zeitgenössische Literatur sich mit kaum einem anderen Thema so intensiv befasst wie mit der bürgerlichen Familie und ihrer Generationenfolge, ihrer Verwirrung und ihrem gesellschaftlichen Wandel oder: Mit ihren ungelüfteten Geheimnissen. Und um ein solches Familiengeheimnis geht es in dem neuen Roman der 1964 geborenen, in der Schweiz lebenden Schriftstellerin und Theaterautorin Ruth Schweikert.
"Wie wir älter werden" erzählt nicht von einer, sondern von zwei Schweizer Familien, deren insgesamt sechs Kinder lange Zeit nicht ahnen, dass sie biologische Halbgeschwister sind. Denn der 87-jährige Jacques, der zu Romanbeginn an einem Dezembertag im Jahr 2013 für sich und seine pflegebedürftige Ehefrau Friederike liebevoll das Mittagessen zubereitet, hat in seinem Leben zwei Frauen geliebt: Friederike und Helena. Diese wiederum war mit Emil verheiratet. Für ganze neun Jahre unterbrach Jacques allerdings die Ehe mit Friederike, um mit seiner alten Jugendliebe Helena zusammenzuleben. Er ist der leibliche Vater zweier Töchter Helenas, die erst spät im Leben erfahren und begreifen, dass Emil nur ihr Ziehvater war. Die zwei Paare schlossen in den sechziger Jahren einen Schweigepakt.
Netz der Lebensläufe, der Tragödien und Glücksmomente
Um diesen dunklen Erzählkern herum entfaltet Ruth Schweikert ein Netz der Lebensläufe, der Tragödien und Glücksmomente sämtlicher Familienmitglieder. Es umfasst drei Generationen und mehrere Jahrzehnte. Schweikerts elegant und weich schwingende Satzkonstruktionen erzeugen einen Erzählton, der mit dem melodramatischen Gehalt ihrer Geschichte vorzüglich harmoniert. Eine weitere Stärke der Schriftstellerin liegt in den plastischen und differenzierten Charakterstudien ihrer Figuren. Jedes der sechs, inzwischen längst erwachsenen Kinder, gewinnt individuelle Gestalt.
Beispielsweise Kathrin, die ein Turboleben zwischen Karriere, Ehe und Mutterschaft führt, das man im besten Fall ausgefüllt, im schlechteren überdreht nennen kann. Regelmäßig ruft sie bei Friederike und Jacques an, um sich nach dem Wohlergehen des alten Paares zu erkundigen. Regelmäßig sind es hektische Kurztelefonate vom Flughafen oder vom Schulhof ihrer Kinder, die wirken, als hake sie eine ihrer zahllosen Tagespflichten ab. Miriam wiederum, die Überfliegerin mit einem IQ von 139, von den Eltern Helena und Emil fast schamlos bevorzugt gegenüber den mittelmäßigeren Geschwistern, wird in den siebziger Jahren zum tragischen Fall. In der Pubertät erkrankt sie an Magersucht, noch vor dem zwanzigsten Lebensjahr stirbt sie an einer Überdosis Heroin.
Jede dieser Figuren ist so plausibel wie zeitgenössisch – nur leidet der Roman in der Summe seiner Einzelgeschichten, Namen und Gesichter an einer gewissen Überbevölkerung, die es bei der Lektüre nicht immer leicht macht, den Überblick zu bewahren. Dies ist wohl der Preis, den Ruth Schweikerts Erzählung für ihren familiären Doppelhaushalt zahlt.

Ruth Schweikert: Wie wir älter werden
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
271 Seiten, 21,99 Euro

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