Roman

Elegantes Handlungslabyrinth

Die Hamburger Band Bessere Zeiten spielt am Freitag (30.10.2009) in Hamburg in dem Plattenladen "Burnout Records" ein Instore-Konzert, im Vordergrund sind Schallplatten zu sehen.
Mittelpunkt der Story von Michael Chabon ist ein Plattenladen. © picture alliance / dpa / Angelika Warmuth
Von Irene Binal · 11.06.2014
Michael Chabons Roman "Telegraph Avenue" ist bunt, laut, figurenreich, musikalisch, und sehr lebendig. Er hat ein kluges und schillerndes Gesellschaftspanorama rund um einen kleinen Plattenladen in Oakland entworfen.
Brokeland Records ist ein kleiner Plattenladen in Oakland, der zu einer aussterbenden Art gehört: Hier findet der Jazzliebhaber Raritäten und Besonderheiten, sorgsam auf Vinyl gepresst, und trifft zudem eine Reihe skurriler Gestalten, eine Melange aus Schwarz und Weiß: Der Schwarze Archy und der weiße Jude Nat sind die Inhaber des Ladens, zur Stammkundschaft zählt ihr (schwarzer) Vermieter Garnet Singletary, auch "King of Bling“ genannt, der (weiße) Anwalt Mike Oberstein alias "Moby“ der sich vor allem für die Rechte von Walen einsetzt, der (schwarze) Stadtrat und Beerdigungsunternehmer Chan Flowers oder der (ebenfalls schwarze) Jazzmusiker Randall "Cochise“ Jones mit seinem Papagei "Fifty Eight“.
Aber dem kleinen Laden droht Ungemach: Gibson Goode, ein ehemaliger Quarterback und inzwischen der fünftreichste Schwarze in den USA, will gleich nebenan eine Filiale seiner Kette "Dogpile Records“ eröffnen, und Chan Flowers hat diesem Plan im Stadtrat zugestimmt - für Archy und Nat ein herber Schlag, würde dies doch das Aus für Brokeland Records bedeuten.
Überbordender Figurenkosmos
Nicht immer ist es ganz einfach, in Chabons überbordendem Figurenkosmos den Überblick zu behalten, zumal der Autor zahlreiche Handlungsstränge einbaut, von denen jeder einzelne schon für einen Roman ausgereicht hätte: Archys Frau Gwen, die als Hebamme arbeitet, bekommt nach einer schiefgegangenen Hausgeburt Probleme mit einem rassistischen, weißen Arzt. Archys Vater Luther Stalling, früher der Star billiger Kung-Fu-Filme, heute von Alkohol und Drogen gezeichnet, will aus seiner dunklen Black-Panther-Vergangenheit Geld herausschlagen. Der 14-jährige Titus, Archys unehelicher Sohn aus einer früheren Beziehung, taucht plötzlich in der Stadt auf. Und schließlich wird auch noch Cochise Jones, für Archy eine Art Ersatzvater, von seiner eigenen Hammond-Orgel erschlagen.
Es ist ein wahres Handlungslabyrinth, doch Chabons Prosa windet sich elegant hindurch, wartet mit oft schrägen Metaphern auf ("sie fegte mit dem Besen ihrer Paranoia über diesen stillen, kleinen Straßenabschnitt“) und zieht einen einzigen Satz auch schon mal über 15 Seiten, ohne dabei - und das ist erstaunlich - an Tempo oder Substanz zu verlieren.
Obama bekommt einen Gastauftritt
So vielschichtig wie der Plot ist auch das, was dahinter steckt. Anspielungen auf die Blaxploitation-Filme der siebziger Jahre und Quentin Tarantino, Verweise auf die amerikanische Musikgeschichte, eine Prise Kapitalismuskritik, etwas Popkultur, ein kräftiger Schuss Nostalgie - all das und mehr verbirgt sich in Chabons Roman, der den Charme des kleinen Plattenladens ebenso spielerisch und leicht einfängt wie funkige Jazz-Rhythmen oder das bunte Treiben auf der Telegraph Avenue. Und selbst Barack Obama, anno 2004 noch ein kleiner Senator, bekommt einen Gastauftritt. Es ist ein kluges und schillerndes Gesellschaftspanorama, ein Loblied auf den Anachronismus und gleichzeitig eine Hommage an die Veränderung, ein Roman, so vielfältig wie das Angebot von Brokeland Records - und mindestens so unterhaltsam.

Michael Chabon: Telegraph Avenue
Übersetzt von Andrea Fischer
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014
592 Seiten, 24,99 Euro

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