Roman

Eine versehrte Seelenlandschaft

Er ist der Sohn eines Kurden aus dem irakischen Kurdistan und einer Deutschen. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er in der DDR.
Der Schriftsteller Sherko Fatah ist der Sohn eines Kurden aus dem irakischen Kurdistan und einer Deutschen. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte er in der DDR. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Stefan Weidner · 11.08.2014
Auf den ersten Blick geht es um zwei entführte Männer im Irak. Doch ihr Schicksal öffnet einen Raum für existenzielle Fragen nach Identität und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Damit hat der gebürtige Ost-Berliner Fatah auch ein Buch über den Zerfall der DDR geschrieben.
Der deutsche Schriftsteller Sherko Fatah, 1964 in Ost-Berlin geboren, wird seit seinen ersten Büchern vom Herkunftsland seines Vaters heimgesucht: dem Irak. Trotzdem wäre es unsinnig, Sherko Fatah einen irakischen oder irakisch-kurdischen Schriftsteller zu nennen. Die meisten seiner Bücher spielen im Irak. Aber der Blick auf dieses fremde und geschundene Land ist kein irakischer. Man spürt es an den beiden Hauptfiguren seines neuen Buchs, Albert, einem deutschen Aussteiger, der als Konservator im Bagdader Nationalmuseum jobbt, und Osama, seinem irakischen Übersetzer. Beide werden entführt. Aber lediglich Albert hat als Ausländer für die Entführer einen Wert. Osamas Verschleppung ist, wie der ganze Irak, nur ein Kollateralschaden.
Es ist eine große deutsche Nachmauerfall-Orientierungslosigkeit, die Albert in den Irak verschlägt. Bis dahin nur eine Metapher in Alberts Leben, wird diese Orientierungslosigkeit im Irak konkret: Weder die Leser noch Albert und Osama wissen, wohin sie von ihren Entführern jeweils gebracht werden. Einmal kann Albert fliehen und gelangt an einen trostlosen Strand, das einzige Schiff, das er sieht, ist ein Wrack, und bald wird er wieder eingefangen. Und der Irak, den wir aus dieser Perspektive kennenlernen, ähnelt der virtuellen Landschaft eines Ego-Shooter-Spiels mehr als einem konkreten Ort. Man fährt auf endlosen Landstraßen durch gestaltlose Wüsten, versteckt sich in zerstörten Stadträndern, in armseligen Dörfern, ist eingesperrt auf den Ladeflächen von Autos oder in Kellerlöchern. Sherko Fatahs letzter Ort Irak ist in Wahrheit eine große, arg versehrte Seelenlandschaft, ein in Geografie übersetztes Psychogramm.
Suche nach Zugehörigkeit
Die Entführung ist bei Beginn des Romans schon eine Tatsache, und sie bleibt es bis zum offenen Schluss. Es gibt ein paar Szenen, in denen der Autor mit der Versuchung kämpft, aus dem Buch einen Thriller zu machen. Aber der Roman reißt vor allem dann mit, wenn er sich auf sein ursprüngliches Szenario verlässt, die innere Selbsterforschung der beiden Entführten. In dieser Innenwelt, nicht im irakischen Niemandsland, gewinnt das Buch Weite und Tiefe, schlägt Wurzeln in Gestalt der Erinnerung der Entführten, die von der Todesangst zu sich selbst, in ihre eigene Geschichte, zu ihren persönlichen Wahrheiten geführt werden.
Sherko Fatahs Irak-Roman ist somit zugleich eine Familiengeschichte, ein Buch über den Zerfall der DDR, über die Suche nach Zugehörigkeiten und nach einer Aufgabe. "Sie dürfen Tiere heiraten, Hunde und Schweine", heißt es einmal von Seiten der Entführer über die Europäer. Alberts Vater, der überzeugte, und mit vielen Privilegien ausgestattete Kommunist, hätte es über den Kapitalismus genauso sagen können.

Sähe man in Sherko Fatahs Buch einen Roman über den Irak, reduzierte man es auf seinen äußerlichsten Aspekt. Fatah konfrontiert seine Leser mit einer einfachen Frage: Stell Dir vor, du bist entführt, aus allem heraus gerissen: Wie und woran hältst du dich fest, was macht dich dann noch aus, was gibt Dir den Willen zu überleben. "Der letzte Ort", wo auch immer er liegt, ist nichts als diese Frage.

Sherko Fatah: Der letzte Ort
Luchterhand, 2014
286 Seiten, 19,99 Euro

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