Roman

Ein einfaches Herz

Ein dichte Wolkendecke ist am 27.06.2014 über dem Tiroler Plansee bei Reutte (Österreich) zu sehen.
Wenige Glücksmomente überstrahlen jede Entbehrung im Leben der Hauptfigur Andreas Egger, das in den Bergen Tirols spielt. © picture alliance / dpa / Nicolas Armer
Von Ursula März · 02.08.2014
Eine existentielle Wucht entfaltet Robert Seethalers Roman durch die Naivität und Einfachheit seines Protagonisten. 1902 als Waisenkind bei einem Tiroler Großbauern abgegeben, bewahrt er sich trotz schwersten Schicksals eine Daseinsbejahung.
Zwischen dem Personal, das die deutschsprachige Gegenwartsliteratur üblicherweise bevorzugt, zwischen all den akademischen Mittelständlern mit komplizierter Seelen- und Bewusstseinslage, wirkt Andreas Egger wie ein Fremdkörper. Denn Andreas Egger, die Hauptfigur des neuen Romans von Robert Seethaler "Ein ganzes Leben“ ist ein einfacher Mensch. Er ist es nicht nur in sozioökonomischer Hinsicht, es ist es vor allem in geistiger und emotionaler Hinsicht. Gerade diese Einfachheit aber, die Naivität seiner Regungen und Gedanken, verleihen der Geschichte, die sich vor der Kulisse der Tiroler Berglandschaft abspielt, eine elementare, ja existentielle Wucht.
Das Tal, in dem der Roman spielt, hat allerdings keinen Namen. Unbestimmt sind auch Herkunft und Geburtsjahr von Andreas Egger. Verbürgt ist lediglich, dass er im Jahr 1902 als Waisenkind auf dem Hof des Großbauern Kranzstocker abgegeben wird. Dieser nimmt den Kleinen widerwillig auf, nutzt ihn als Hilfsknecht, unterzieht ihn grausamer Misshandlungen, bricht ihm während einer Prügelorgie sogar den Oberschenkel. Von nun an humpelt Andreas Egger. Er geht nur wenige Jahre zur Schule, lernt nur rudimentär lesen, macht keine Berufsausbildung und hat seinem Schicksal nichts anderes zu bieten als Körperkraft, Überlebenswillen und jene schlichte Daseinsbejahung, als deren allegorische Gestalt der Roman ihn darstellt.
Eine kurze Idylle
Bei einem Gasthausbesuch lernt Andreas Egger die Kellnerin Marie kennen. Eine flüchtige Berührung ihres Rocks an seinem Oberarm genügt ihm als Zeichen großer Liebe. Mit eigenen Händen erbaut er oberhalb des Tals eine kleine Hütte, zieht dort mit Marie ein und findet Arbeit bei der Firma, die das Alpental elektrifiziert und mit Gondeln für den Skitourismus erschließt. Ein Lawinenunglück, vermutlich die Folge einer unterirdischen Sprengung, zerstört die kurze Idylle im Leben von Andreas Egger. Sie begräbt Marie und die Hütte unter sich.
Einige Jahre später wird Andreas Egger trotz seiner Behinderung zum Militärdienst eingezogen und kommt im Zweiten Weltkrieg an die russische Front. Neun Jahre lang bleibt er in Kriegsgefangenschaft. In den Nachkriegsjahrzehnten verdingt er sich als Bergführer in der aufblühenden Tourismusbranche. Die Jahre und die Einsamkeit machen ihn immer mehr zum Eigenbrötler. In den Augen der Mitmenschen ist Andreas Egger ein schrulliger, ja verrückter Alter, ein vom Schicksal hart geschlagener Mensch. Er selbst aber blickt versöhnt und zufrieden auf sein Leben zurück. Die Glücksmomente, die es darin gab, die einzigartige Liebe zu Marie, die Nähe zur Natur, sind so tief in ihm versenkt, dass sie am Ende alles Unglück, jede Entbehrung überstrahlen.
Robert Seethaler erzählt diese Geschichte eines einfachen Herzens mit einer Sprache wunderbar leichter, federnder Eleganz und in novellenhaft kurzer Form. Fast das gesamte 20. Jahrhundert hat auf weniger als 200 Romanseiten Platz, die, gleichsam nebenbei, auch den ökologisch folgenreichen Technisierungsprozess der Alpenlandschaft darstellen. "Ein ganzes Leben“ ist ein literarisches Kleinod. Seine minimalistische Verdichtung wird belohnt mit enormer Eindringlichkeit.

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben
Hanser Verlag, Berlin 2014
154 Seiten, 17,90 Euro

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