Roman

Die Rückkehr der Geschichte

Der so genannte Judengang in Berlin Prenzlauer Berg führt zum Jüdischen Friedhof, der 1826 an der Schönhauser Allee angelegt wurde.
Der so genannte Judengang in Berlin Prenzlauer Berg führt zum Jüdischen Friedhof, der 1826 an der Schönhauser Allee angelegt wurde. © picture-alliance / Berliner_Zeitung
Von Vladimir Balzer · 12.05.2014
Als in den 1990er-Jahren eine jüdische Erbengemeinschaft ein Haus in einem Berliner Vorort rechtmäßig beansprucht, kommt es zu kleinen und größeren Dramen. Die Bewohner müssen sich mit einem Teil der deutschen Geschichte auseinandersetzen, der in der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR keine große Rolle spielte.
Man ist erst skeptisch. Ostdeutsche Hausbewohner kämpfen in Kathrin Gerlofs "Das ist eine Geschichte" gegen jüdische Alteigentümer. Doch Gerlof gelingt in ihrem vierten Roman ein kleines Wunder. Ohne aufdringliche moralische Botschaft zeigt sie, wie normale Leute ihre Verstrickungen in die deutsche Geschichte zu spüren bekommen.
Mitte der 90er Jahre, ein kleiner Berliner Vorort. Eine jüdische Erbengemeinschaft beansprucht, was ihr juristisch und moralisch zusteht: ein Grundstück, das den Vorfahren damals unrechtmäßig genommen wurde. Es beginnt ein jahrelanger Kampf. Die Erbengemeinschaft trifft bei den meisten Bewohnern der inzwischen entstandenen Häuser auf eine Wagenburgmentalität. Unter ihnen sind Nachkommen von Widerstandskämpfern ebenso wie Menschen mit unauffälligen Biografien. Da ist der Lokaljournalist, der in den Auseinandersetzungen seine Angst verliert, dass seine Zeitung keine Käufer mehr finden könnte. Da ist die Anwältin, die plötzlich Details aus dem Leben ihres Vaters erfährt, ohne die sie ruhiger schlafen würde.
Und da sind die Alteigentümer selbst, nach denen die Gemeinde sogar die Straße benannt hat, in der das Haus liegt, die Weinrebs. Man erschrickt erst, als Kathrin Gerlof ihre Stimmen das Geschehen kommentieren lässt. Ein Weinreb wundert sich sogar, dass "diese Schickse", also die Erzählerin, die Geschichte seiner Familie erzählen will. Doch sie gestehen es ihr zu.
Der Roman liest sich wie eine besonders gute Reportage
Die Berlinerin Kathrin Gerlof war lange Journalistin, und das merkt man dem Roman an, der sich eher wie eine Reportage liest. Aber eine besonders gute. Sie lässt, wie es sich für eine gute Reportage gehört, viele Stimmen zu Wort kommen, nimmt mehrere Perspektiven ein und findet immer den richtigen Ton. Sie geht die Nummern der Salomon-Weinreb-Strasse durch, schaut in die Häuser, entdeckt Bewohner im Alltagsstress, mit Eheproblemen, in Familienkrisen und voller Bedauern über verpasste Lebenschancen.
Vielen geht es gar nicht um die Restitution an die Erben jüdischer Opfer. Hinter dem juristischen Vorgang geht es um das schmerzhafte Begreifen der Geschichte. Und es geht um die Behauptung einer eigenen Existenz nach dem Ende der DDR und dem Ende der Gewissheiten. Viele haben auf dem Grundstück ihre Häuser gebaut, ohne auch nur zu ahnen, dass ihnen dieser Grund und Boden je streitig gemacht werden könnte. Denn die DDR hatte diesen Teil der Geschichte einfach ausgelöscht. Jüdische Opfer spielten eine Nebenrolle in der offiziellen Geschichtsschreibung, die den heroischen Kampf der Kommunisten betonte. Und mit der Gründung des Oststaates war die Nazigeschichte offiziell vorbei. Mitte der 90er Jahre ist sie wieder da, mit aller Macht, und zieht den Bewohnern des Berliner Vororts den Boden unter den Füßen weg.
Diese Geschichte wollte Kathrin Gerlof erzählen. Sie tut es hemdsärmelig, zuweilen zu viel Details anhäufend, aber immer mit großer Freude an den Geschichten ihrer Protagonisten. Am Ende geht es zum Glück nicht mehr um die juristische Auseinandersetzung. Es geht um nichts weniger als persönliche Einsichten in die deutschen Geschichte.

Kathrin Gerlof: Das ist eine Geschichte
Aufbau Verlag, Berlin 2014
396 Seiten, 19,99 Euro