Roman

Die Gespenster beschwichtigen

London Bridge, dahinter der Palace of Westminster mit Big Ben.
Immer wieder zieht es die Hauptfigur in "Panischer Frühling" zur Themse. Auf der London Bridge passiert ihr eine folgenreiche Begegnung. © picture alliance / Daniel Kalker
Von Edelgard Abenstein · 27.05.2014
Stimmungsvoll, bilderreich und beklemmend erzählt Gertrud Leutenegger von der Begegnung einer Frau mit einem Londoner Obdachlosen, die Erinnerungen in beiden freisetzt. Der Roman ist eine Huldigung an die Kraft des Erzählens.
Frühjahr 2010: Plötzlich fühlt sich London wieder an wie eine Inselstadt, abgetrennt von der übrigen Welt. Ein isländischer Vulkan hat mit seinen Aschewolken den Flugverkehr in Europa zum Erliegen gebracht. So auch in der britischen Metropole, wo eine nicht mehr ganz junge Frau, Schweizerin wie die Autorin Gertrud Leutenegger selbst, für eine Weile lebt, irgendwo im East End, zwischen bengalischen und pakistanischen Familien.
Ziellos streift sie durch die Stadt, die ihr unter dem leeren Himmel wie aus der Zeit gefallen erscheint. Durch Hinterhöfe, in denen die Kirschbäume verschwenderisch blühen, durch lärmende Migrantenquartiere, wo über Nachtlagern aus Wellpappe unvermutet Amseln zu hören sind, durch die kalte Pracht von Westminster Abbey oder eine zwischen Hochhäusern eingezwängte winzige Kirche, deren Lilienschmuck duftet wie ein unterirdischer Garten.
Immer wieder zieht es sie zur Themse. Als wären ihre Sinne neu geschärft, sieht sie wie in einer Zeitmaschine römische Legionen auf leichten Kampfschiffen zwischen Ausflugsdampfern oder die abgeschlagenen Köpfe von rebellischen Ministern aus elisabethanischer Zeit, aufgespießt auf der Brüstung der Tower-Bridge, hoch über dem wogenden Autostrom.
Die Themse bestimmt auch den Rhythmus dieses zunächst wie ein farbiges Frühlingspoem geschriebenen Buches. Jedes Kapitel beginnt mit einer Meldung über den Stand des Wassers. Der Wechsel zwischen Ebbe und Flut, zwischen "Low Water" und "High Water", macht aus der Themse einen Fluss in "quirlendem Stillstand" - genau wie eine ferne Katastrophe den Himmel über London in tiefblaue Stille taucht.
Die Angst besiegt
Fahrt nimmt der Roman durch eine überraschende Begegnung auf. Auf der London Bridge trifft die Erzählerin einen Mann, der Obdachlosenzeitungen verkauft. Angezogen von der Schönheit seines Profils, das sie an ein Renaissanceporträt erinnert, ist sie umso entsetzter, als sie die andere, durch ein Feuermal grauenhaft entstellte Hälfte des Gesichts sieht. Doch was sie erschreckt, fasziniert sie zugleich. Ganz besonders die Gabe des jungen Mannes, sie inmitten des Getümmels mit Geschichten aus seiner Kindheit zu fesseln, von Cornwall am Meer, wo die Großmutter ihn vor den Angriffen anderer Kinder schützte, bis er seine Angst besiegte, weil er mutiger war als alle anderen.
Im Gegenzug erzählt auch sie, in assoziativen Sprüngen, vom Pfarrhof des Onkels, wo sie alle Kindheitssommer erlebte, von dämmrigen, mit Pflanzentapeten ausgeschlagenen Kabinetten, dem blauen Seezimmer, dem herrschaftlichen roten Saal des Hauses, vom geheimnisvollen Goldstück auf dem Bett der Tante, von den rätselhaften allmittäglichen Schreckensschreien der Nachbarsfrau, vom letzten Aufbäumen des sterbenden Vaters.
Als wäre das Offenlegen von Erinnerungen ein Geschenk, mit dem wir uns das Fremde vertraut machen, so ist "Panischer Frühling" vor allem eine Huldigung an die Kraft des Erzählens, wie es in Gang kommt und wogegen es hilft: Es beschwichtigt die "Gespenster der Welt". einer und von schönster Sinnlichkeit.

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014
222 Seiten, 19,95 Euro

Mehr zum Thema