Roman-Debüt

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Die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann signiert eines ihrer Bücher (Archivbild von 2009). Hermann - geboren 1970 in Berlin - lebt im Prenzlauer Berg.
Die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann signiert eines ihrer Bücher (Archivbild von 2009). © dpa / Alina Novopashina
Von Jörg Magenau · 14.08.2014
Für ihre ersten Erzählbände wurde Judith Hermann gefeiert - doch ihr erster Roman "Aller Liebe Anfang" droht durchzufallen. "Braver Beschreibungsrealismus", findet der "Spiegel". Jörg Magenau dagegen attestiert Hermann große Subtilität.
Seltsam irritierend ist der Titel, der so klingt wie aus dem Poesiealbum mildtätiger Damen. Doch ob die Geschichte, die Judith Hermann erzählt, überhaupt etwas mit "Liebe" zu tun hat, mit ihrem Anfang oder gar dem Anfang "aller" Liebe, das ist mehr als zweifelhaft. Nur der dem Roman vorangestellte kleine Prolog im Himmel, der davon handelt, wie Stella und Jason in einem Flugzeug schicksalhaft nebeneinander zu sitzen kommen und sie ihm, von Flugangst gepeinigt, die Hand reicht, die er nicht wieder loslässt, ist zumindest ein Anfang und hat, auch etwas mit Liebe zu tun.

Denn bald wohnen die beiden zusammen in einem Haus in einer Stadtrandsiedlung, haben eine gemeinsame Tochter und verbringen in etwa das Leben, das zumindest Stella sich immer erträumt hat. Genau diese gepflegte Langeweile zwischen Kinderkrippe, Kaffeekochen, Gartenarbeit und ihrer Tätigkeit als Altenpflegerin hat sie sich doch genau so vorgestellt. Warum also fehlt etwas –und was? Dass dies nicht der Liebe Anfang, sondern eher ihr Grab ist, hat Stella noch nicht bemerkt.
Wenn der Nachbar an der Gartenpforte klingelt
Dazu braucht es einen jungen Mann, der eines Tages an der Gartenpforte klingelt und dringend mit ihr sprechen will. Sie lehnt ab, doch er kommt jeden Tag und bald auch nachts wieder, klingelt und geht, und bald wirft er ihr Botschaften und allerlei merkwürdige Dinge in den Briefkasten. Er wohnt ein paar Häuser weiter, doch sie kennt ihn nicht und weiß nichts von ihm, der sich als ihr Gesprächs- und Liebespartner zu imaginieren scheint. Wie wird man so einen wieder los? Als „aller Liebe Anfang" wäre diese rücksichtslose Leidenschaftsdemonstration nur tauglich, wenn alle Liebe eine Projektion wäre, die weniger mit dem geliebten Objekt zu tun hat als mit den Bedürfnissen dessen, der zu lieben behauptet.
Judith Hermann entfaltet die Geschichte sehr langsam, sehr subtil, in einem Stil von geradezu provozierender Schlichtheit: „Die Küche ist hell." „Im Flur geht eine Treppe hoch in den ersten Stock." Hauptsätze wie aus dem Aufsatzheft reihen sich aneinander, und doch entsteht gerade dadurch eine alles durchdringende Atmosphäre der Langeweile, aus der heraus sich die vibrierende Spannung des Bedrohlichen erst entwickeln kann. Das gewalttätige Eindringen des Nachbarn in das beschauliche Dasein der jungen Frau kann nur auf dem Boden der Ereignislosigkeit gelingen und führt schließlich dazu, das kleine Familienleben zu sprengen und eine innere Dynamik sichtbar zu machen, die man da nicht vermutet hätte.
Rettung kommt nicht von außen
Die Kunst von Judith Hermann besteht darin, nichts von dem auszusprechen, was sich unter der genau beobachteten Oberfläche vollzieht. Auch für Stella selbst deutet nichts drauf hin, dass sie am Ende weggehen wird und den Satz notiert: „Veränderung ist kein Verrat." Der Mann, der sie belästigte (das Wort Stalker fällt nur ein einziges Mal) ist nur der Anlass. Er bleibt bis zum Schluss der Fremde, der in seiner eigenen Phantasiewelt und in großer Einsamkeit lebt. Für ihn gibt es keine Rettung, und ob Stella an einem anderen Ort ein anderes Leben führen wird, darf ebenfalls bezweifelt werden. Rettung kommt nicht von außen und schon gar nicht von anderen. „Aller Liebe Anfang" ist – wie könnte es bei der auf Melancholie spezialisierten Judith Hermann anders sein – ein trauriger, intensiver Roman über den Verlust und die Abwesenheit der Liebe. Von Anfang keine Spur.
Besprochen von Jörg Magenau

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang
S. Fischer, Frankfurt/Main 2014
222 Seiten, 19,99 Euro

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