Roman

Das Schlachtfeld der Gefühle

Der norwegische Schriftsteller Per Petterson
Der norwegische Schriftsteller Per Petterson © picture alliance / dpa / Foto: Eskestad Mik
Von Gabriele von Arnim · 05.11.2014
Nach Jahren treffen sich Jim und Tommy wieder, die einst zusammen in einem Dorf aufwuchsen. Der eine ist heute arbeitslos, der andere erfolgreich - einsam sind sie aber beide. "Nicht mit mir" ist eine sprachgewandte Geschichte über die Psyche des Mannes.
Jim und Tommy waren Kindheitsfreunde. Enge Freunde offenbar, doch dann wurden die beiden getrennt oder haben sich entzweit. Jedenfalls sehen sie sich nach über dreißig Jahren zum ersten Mal zufällig wieder. Jim steht in zerschlissener Lotsenjacke am Fluss und angelt, als Tommy in einem glänzenden Mercedes neben ihm hält. Ist das nicht Jim, sagt er. Karge Sätze folgen dem Erkennen, und doch scheint eine lächelnde Vertrautheit auf, und man wünscht sich, die beiden Männer würden Telefonnummern austauschen, sich wiedersehen wollen.

Doch so leicht macht Per Petterson es seinen Figuren nicht, sich aus dem Dickicht der Vergangenheit zu befreien. Erst müssen sie hinein ins finstere Einst. Und wir mit ihnen. Und je länger wir mit steigender Spannung Petterson folgen auf den Schicksalspfaden von Jim und Tommy, desto undurchdringlicher wird das Gestrüpp, in dem sich die Figuren verfangen haben. Und doch ist uns alles zugleich so vertraut, weil Petterson uns hineinführt in die fast ganz normale Lebenswildnis.

Jim und Tommy wuchsen auf in einem kleinen Dorf. Jim bei seiner Mutter. Tommy mit seinen Schwestern bei seinem gewalttätigen Vater. Die Mutter ist abgehauen, hat die Kinder ihrem Monstergatten überlassen und sich nie wieder gemeldet. Nach und nach lernen wir Tommys Umgebung kennen, die Eltern, die Geschwister, aber auch die Nachbarn, den Betreiber der Tankstelle und den alten Jonsen, der Tommy aufgenommen hat, als auch der Vater die Kinder sitzen ließ. Die Geschichte wird in Zeitsprüngen erzählt – meist aus der Perspektive von Jim oder Tommy, mal auch von Siri, Tommys Schwester oder von Jonsen, der Tommys Mutter gut kannte, sehr gut sogar.
Zerwürfnisse alternder, wortkarger Männer
Manchmal erzählt Petterson dieselbe Szene aus zwei Perspektiven. So wird nach und nach aus dem Puzzle ein Bild. Man erkennt die Jungen von damals und die Männer von heute. Tommy ist erfolgreich und verdient viel Geld. Aber glücklich ist er nicht und trinkt zu viel. Jim, einst Bibliothekar, ist arbeitslos. Er musste sich krankschreiben lassen, weil er heimgesucht wird von Attacken, die ihn buchstäblich fällen und lähmen. Einsam sind sie beide.

Unausgesprochene Zerwürfnisse alternder, wortkarger Männer, Angst vor Erinnerungen, zersplitterte Kindheiten – das sind typische Per Petterson Themen. Und er schreibt über nichts hinweg, schreibt an nichts vorbei, sondern mitten hinein in die Lebenstraurigkeit und die Lebenslügen, häutet seine Figuren wie Zwiebeln und tut es mit stiller Gründlichkeit.

Jims Attacken reduzieren ihn auf ein hechelndes, heulendes, zu Boden stürzendes, nach Atem ringendes Elendswesen. Die Ärzte können keine Ursache finden. Der Körper, hat Petterson einmal gesagt, sei das eigentliche Schlachtfeld der Gefühle, und es fasziniere ihn, diese Schlacht ganz genau zu erzählen.

Aber mitten hinein in den Schauder der Lebensangst schreibt Petterson helle und innige Szenen und Sätze, in denen Trost und Zärtlichkeit leuchten, in einer Sprache, die den Leser magnetisch anzieht und aufs Schönste von Ina Kronenberger ins Deutsche übertragen wurde.

Per Petterson: Nicht mit mir
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Hanser Verlag, München 2014
288 Seiten, 19,90 Euro