Roman

Bürgermeister ermordet Dorftrottel

Mont-Tremblant, eine Dorf in der Provinz Quebec (Kanada), Mont-Tremblant ist ein Skigebiet
Jedes Dorf lehrt eine Lektion fürs Leben. © Imago / All Canada Photos
Von Katharina Döbler · 25.02.2015
Die Wahrheit kann in einem Dorf ein soziales Chaos auslösen: Neugier, Tratsch und Unterstellung enden häufig in Gerüchten. Wie aber verheimlichen ein Bürgermeister und sein Vize in Julie Mazzieris Roman "Grabrede auf einen Idioten" den Mord an dem Dorf-Idioten?
Der Roman beginnt mit einem interessanten Auftakt: Ein Mord, knapp vier Zeilen lang, sachlich und faktisch erzählt. Nicht mehr als ein kurzer Moment. Man ist nun den ganzen Rest des Buches gespannt auf die Folgen – und wird aufs angenehmste enttäuscht.
Die Täter sind der Bürgermeister und sein Stellvertreter, Monsieur Marceau; das Opfer ist der Dorf-Idiot. Es gibt kein Blut, kein Messer, keine Kugel, nur einen Sturz in den Brunnen, wie zufällig, aber doch genau geplant, ein rasches, stummes Verschwindenlassen.
Kurz danach kommt in diesem kleinen Dorf im Quebec ein heftiger Schneesturm auf, und das im Frühsommer. Damm lassen sich Fremde aus der Stadt im Ort nieder. Im Straßengraben wird eine Mädchenleiche gefunden und ein zugereister Landarbeiter für den Schuldigen gehalten. Doch - nichts von alledem scheint langfristige oder weitreichende Folgen zu haben. Es gibt keine ermittelnden Kommissare, keine Bürgerwehr, keinen Aufruhr. Das Dorf zelebriert die Beerdigung der Ermordeten und kurz danach sein Sommerfest, der Bürgermeister hält Reden und der Idiot bleibt verschwunden.
Doch unter der schweren Decke ländlicher Trägheit brüten die Ressentiments, der Hass, die Verdächtigungen – und die Schuldgefühle.
Wahrheit ist unerwünscht
Julie Mazzieri bespielt diesen abgelegenen Ort als kleines Welttheater, offenkundig inspiriert von William Faulkner und seinem Yoknapatawpha County. Mit großem Geschick verwebt sie die Perspektiven ihrer vielen Figuren – des ungerührt jovialen Bürgermeisters, des an der Schuld verzweifelnden Stellvertreters, des Landarbeiters oder des Pfarrers, auch die des Idioten selbst - zu einer schillernden Textur abgründiger Alltäglichkeit. Niemand weiß, wie alles wirklich zusammengehört, auch die Leser nicht.
Denn jedes Dorf lehrt seine Kinder eine Lektion fürs Leben und die lautet: Eine Wahrheit, die sein soziales Geflecht und das Gleichmaß des Lebens darin zerstören würde, ist nicht erwünscht. Neugier, Tratsch und Unterstellung machen den Nährstoff dörflicher Kommunikation aus. Nähert man sich unerfreulichen Tatsachen erstirbt sie und sucht den Ausweg im Gerücht.
Diese Haltung, diese manchmal ebenso grauenhafte wie liebenswerte Idiotie, hat Julie Mazzieri in diesem Roman großartig eingefangen.

Julie Mazzieri: Grabrede auf einen Idioten
Aus dem Französischen von Christoph Roeber
diaphanes, Berlin und Zürich 2015
265 Seiten, 18,95 Euro

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