Rolle des Zuschauers

Von Dirk Schneider · 04.06.2012
"Young Performing Arts Lovers" nennt sich ein Zusammenschluss junger Theaterzuschauer: Beim Hamburger Performance-Festival "Live Art" haben sich nun zahlreiche junge Europäer des Netzwerks getroffen, um gemeinsam über die Rolle des Zuschauers im Theater zu reflektieren.
Philipp Stange: "Das ist unser Raum, in dem wir schlafen."

Eine große Halle der Hamburger Theaterfabrik Kampnagel: Zwischen einer Landschaft aus schwarzen Wänden, entworfen von Designstudenten, liegen Luftmatratzen, darauf Schlafsäcke und Koffer.

Philipp Stange: "Und das ist so ne richtig schöne Jugendherberge jetzt. Aber viel spannender."

Philipp Stange ist Mitglied im Netzwerk der "Young Performing Art Lovers", kurz YPAL. Die Mitglieder treffen sich regelmäßig auf Theaterfestivals, um gemeinsam über ihre Rolle als Zuschauer zu reflektieren und mit den Künstlern in Dialog zu treten. Bei "Live Art" auf Kampnagel sind sie erstmals im Theater untergebracht - eine schöne Idee, die aber eher nicht dazu beitragen wird, die Perspektive des Zuschauers zu behalten. Das Festival will diese Rolle radikal infrage stellen und dem Publikum dabei einiges abverlangen. Zum Beispiel mit der Produktion "Low Pieces" des französischen Choreografen Xavier Le Roy.

Es beginnt mit einem viertelstündigen freien Dialog zwischen Performern und Zuschauern, den ein eher unsicheres Publikum
durch Smalltalk zu füllen versucht:

Irgendwann geht das Licht aus, als die Bühne wieder hell wird, sind die Performer nackt. Tanzend werden sich in verschiedenen Szenen verwandeln und ihre Körper zu Maschinen, Löwen oder Vögeln werden lassen.

Die Darstellungen sind sehr genau, bei minimaler Bewegung, die Szenen aufreizend lang. Das Publikum zeigt sich im abschließenden Dialog, diesmal im Dunkeln, nicht sehr entspannt.

Neben einigen Unmutsäußerungen flüchten die meisten Zuschauer aber wieder in harmlose Sachfragen. Philipp Stange von den YPAL verlässt das Stück begeistert:

Philipp Stange: "Ich fand’s super, ganz toll. Sehr subtil, das hat ganz viel geöffnet für die Frage: Was ist das Zusammensein von Performer und Zuschauer?"

Stange, der mit 24 Jahren in Frankfurt Theaterregie studiert, sieht in diesem Experiment von Xavier Le Roy ein Versprechen – der Kritiker eine überhebliche Demonstration, wie unbefriedigend Kommunikation durch Sprache sein kann, was in einem für Dialog völlig ungeeigneten Rahmen auch nicht gerade überraschend ist. Fragen wirft der Abend aber einige auf. Die zu diskutieren lädt Le Roy am nächsten Nachmittag die YPAL zum Gespräch ein.

Viel wird über Macht und Verletzlichkeit von Darstellern und Zuschauern diskutiert. Aber auch die Sichtbarkeit einzelner Körperteile im Stück wird ausführlich und lustvoll erörtert. Eine erste Erkenntnis kristallisiert sich heraus: Unsicherheit herrscht auf beiden Seiten, auch die Performer wissen sehr wenig darüber, was sie ihrem Publikum hier zumuten. Dennoch gibt Le Roy zu, dass es immer die Performer sind, die die Regeln bestimmen. Das weiß auch die junge estnische Choreografin Kroot Juraak:

"”I think it’s very unfair. And there is no solution to this ...”"

Es sei ein unfaires Kräfteverhältnis, und für dieses Problem gäbe es wohl keine Lösung. Doch die Zuschauer sollten sich davon verabschieden, dass eine Performance für sie ein Vergnügen sein solle. Nicht besonders vergnüglich ist auch Juraaks Performance "Scripted Smalltalk", die sich völlig aufs Publikum konzentriert. Während die Bühne leer bleibt, lesen die Zuschauer Dialoge, in denen die Rolle des Publikums in dieser Situation reflektiert wird.

"Scripted Smalltalk" ist wahrscheinlich das radikalste Stück bei "Live Art", doch auch eines der unspektakulärsten. Es verhindert jede Unmittelbarkeit, und allein die Belohnung des Publikums durch große Mengen Süßigkeiten und Wodka bringen ein bisschen Freude ins Geschehen. Ganz anders "Open For Everything" von Constanza Macras und Dorky Park, einem weiteren Stück des Eröffnungswochenendes.

Es bringt Roma aus Zentral- und Osteuropa und ihre Geschichten auf die Bühne. Dieser Publikumsmagnet lässt das Thema "postspektakuläres Theater" für vergnügliche 100 Minuten völlig vergessen.

Für Lucy Robert, auch eine YPAL, sind bei "Live Art" kaum neue Erkenntnisse zu holen. Sie ist 30 Jahre alt und arbeitet seit einigen Jahren für eine Spielstätte in Paris. Sie profitiert vor allem vom Austausch mit den YPAL aus anderen Ländern.

In jedem Land würden sich die Zuschauer anders verhalten, das habe sie gelernt. Dieser europäische Austausch ist auch ein Ziel der Geldgeber hinter YPAL: Die EU mit dem Programm "Jugend in Aktion". Auch für Philipp Stange stehen am Ende der vier Tage weniger neue Erkenntnisse über den mündigen Zuschauer als über seine Kollegen in Europa.

Philipp Stange: "Man hat jetzt nicht mehr: Ach ja, Irland geht es gerade nicht so gut. Sondern man denkt: Mensch, Shane hat jetzt wirklich Probleme, seine Performance zu finanzieren, weil es da so extreme Kürzungen im Kulturbereich gibt."