Rivera

Ein jüdisches Dorf in der argentinischen Pampa

Straße auf der Halbinsel Valdez nahe Puerto Madryn, Patagonien.
Nichts los - aber Synagogen findet man in der Pampa trotzdem gelegentlich. © dpa / picture alliance / Daniel Gammert
Von Victoria Eglau · 25.12.2015
Eine Synagoge mitten in der Pampa? Nichts Ungewöhnliches im ländlich geprägten Argentinien. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden hier zahlreiche jüdische Agrarsiedlungen. Heute sind Juden hier in der Minderheit. Unsere Autorin hat einen der Orte besucht.
Die Synagoge des Dorfes Rivera ist ein kleiner, gepflegter Backsteinbau mit bunten Glasfenstern. Es ist Freitagnachmittag und eine Kindergruppe lärmt in einem der Räume im Inneren. Elias Ratuschny ist gerade aus der argentinischen Winterkälte hereingekommen, er trägt eine Baskenmütze, eine Vliesjacke und kniehohe Stiefel. Der 74-Jährige zeigt auf eine Gedenktafel im Eingangsbereich, auf der Dutzende von Namen stehen: Ratuschny, Dorensztein, Glik, Schejter – alles jiddische Nachnamen aus Osteuropa.
"Das sind die Namen der ersten Siedler von Rivera. Heute ist von ihren Siedlungen nichts mehr übrig ..."
... sagt Elias Ratuschny. Sein eigener Großvater kam 1905 mit 24 Jahren aus Russland in das heutige Rivera. 16 Familien ließen sich damals auf dem Land nieder, das die "Jewish Colonization Association", die Jüdische Siedlungs-Vereinigung, erworben hatte. Von dem deutschen Philanthropen Maurice de Hirsch gegründet, kaufte diese Organisation Land in Südamerika, vor allem in Argentinien, um Juden aus Osteuropa ein neues Leben fernab von Pogromen, Diskriminierung und Elend zu ermöglichen. Als Ratuschnys Großvater und die anderen Siedler auf ihrer argentinischen Scholle ankamen, fanden sie nur einen Schuppen vor, in dem Schafe geschoren wurden.
"Sie mussten zunächst Löcher graben, um Unterschlupf zu finden, denn Häuser gab es noch nicht. Das Leben war hart, sehr hart. Die Neuankömmlinge waren keine Bauern, sie mussten die Landwirtschaft von der Pike auf lernen. Und das Klima war ungünstig, es gab viele Dürre-Jahre."
600 Familien siedelten Ende der 20er
Dennoch stieg die Zahl der Siedler bis Ende der 1920er-Jahre auf 600 Familien an. Sie bekamen von der "Jewish Colonization Association" je 150 Hektar Land, auf dem sie ihre Lehmhütten errichteten. Insgesamt entstanden zwölf Siedlungen – in jeder gab es eine kleine Synagoge, eine spanisch-sprachige und eine jüdische Schule, ein Theater und eine Bibliothek. Rivera war eine der Siedlungen. Als 1907 die Eisenbahn dort hinkam, entwickelte sich der Flecken zum Hauptort der jüdischen Kolonie.
Auf dem Friedhof, außerhalb des Dorfes, bläst ein eisiger Wind. Das weiße Eingangsportal zieren zwei Davidsterne. Im hinteren Teil des Friedhofs steht zwischen Zypressen ein schlichter siebenarmiger Leuchter, die Menora, religiöses Symbol des Judentums. Nicht weit davon entfernt befinden sich rund 200 Kindergräber.
"Meine Großeltern sagten, es sei eine Epidemie gewesen, aber das stimmt nicht. Schuld am Tod der Kinder waren die ungesunden Lebensbedingungen: das verschmutzte Wasser, der Mangel an Hygiene und die fehlenden Kühlmöglichkeiten für Lebensmittel. Der einzige Arzt sprach nur Spanisch und konnte sich nicht mit den Leuten verständigen. Erst 1914 kam ein Arzt, der Jiddisch sprach. Und da hörte das Sterben der Kinder auf – 200 waren gestorben ..."
... erzählt Elias Ratuschny, gegen den rauen Wind gebeugt. Sein Großvater, sein Vater und er selbst lebten in der neuen Heimat vom Getreideanbau: Weizen, Roggen und Gerste. Ratuschny zeigt auf die Felder, die den Friedhof umgeben:
"Diese Äcker wurden alle einst von jüdischen Bauern bestellt. Nicht ist davon mehr übrig, es gab einen Exodus, auf dem Land gibt es keine Zukunft."
Exodus aus dem Dorf Rivera
Der Exodus aus dem Dorf Rivera und den umliegenden Siedlungen begann in den 1950er-Jahren. Etwas ähnliches ereignete sich in allen der rund 40 jüdischen Agrar-Siedlungen Argentiniens. Zuerst wurden sie von den Einwanderern, die um die Jahrhundertwende ins Land kamen, aus dem Nichts mühsam aufgebaut. Aber nach wenigen Generationen begann die Landflucht.
"Die Kinder und Enkel begannen, nach neuen Herausforderungen zu suchen. Auf dem Land konnten sie sich akademisch und beruflich nicht verwirklichen. Viele gingen in die Städte, um zu studieren. Heute leben hier in Rivera vor allem ältere Leute, viele Witwen. Ihre Angehörigen sind in Buenos Aires oder Israel ..."
... erklärt Mariano Delprado, ein angehender Rabbiner aus dem Dorf. Delprado ist in Buenos Aires aufgewachsen, seine Frau stammt aus Rivera.
"Hier habe ich geheiratet, es war wunderschön. Die erste Hochzeit seit zwölf Jahren ..."
... sagt Delprado in der Dorf-Synagoge. Hochzeiten sind dort zur Seltenheit geworden. An Freitagabenden kommt mit Mühe und Not der Minjan zusammen: die für den Gottesdienst nötige Mindestzahl von zehn Juden.
"Die Synagoge war immer voll, als ich jung war. Die Gläubigen zahlten für ihren Platz Miete an die Gemeinde. Dieser Raum platzte aus allen Nähten, wenn die jüdischen Feste gefeiert wurden. Aber das ist vorbei, das ist Geschichte."
Elias Ratuschny blickt bedauernd auf die leeren Stuhlreihen im Synagogen-Raum und auf der Empore – dem Platz, der früher den Frauen vorbehalten war. Ratuschny sammelt Material für ein Museum der jüdischen Geschichte von Rivera, das die Kommunalregierung plant. Er hofft, dass es tatsächlich zustande kommt.
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