Ritsos vor 25 Jahren gestorben

Politische Kampfgesänge und ein neuer lyrischer Ton

Büste des griechischen Volksdichters Jannis Ritsos vor seinem Geburtshaus in Monemvasia.
Büste des griechischen Volksdichters Jannis Ritsos vor seinem Geburtshaus in Monemvasia. © imago/ANE Edition
Von Christian Linder · 11.11.2015
Der griechische Lyriker Jannis Ritsos war ein Vertreter der modernen Poesie, der als überzeugter Kommunist über seine leidvollen Erlebnisse auf den Gefängnisinseln Limnos oder Makronisos dichtete. Dort war er während des griechischen Bürgerkriegs inhaftiert. Heute vor 25 Jahren verstarb er in Athen.
"Was über deinen Tod hinaus bleibt", ließ Jannis Ritsos in einem mit "Athen, 28. September 1972" datierten Gedicht eine Flüsterstimme verkünden, sei das, "wovon du dein Leben lang träumtest". Wovon träumte Jannis Ritsos? Und warum musste er so viele Klagelieder vortragen? Eines nannte er "Epitaphios", die Totenklage einer Mutter auf ihren in den 1930er-Jahren bei einem Streik in Thessaloniki erschossenen Sohn. Schon 1936 geschrieben, wurde der Text zwanzig Jahre später auch durch die Vertonung von Mikis Theodorakis sehr berühmt.
Ausschnitt aus "Epitaphios"
"An einem Maitag gingst du von mir fort, an einem Maitag verlor ich dich. Im Frühling, wo es dir gefiel, hinaufzusteigen auf die Dachterrasse, schautest du und, ohne genug zu bekommen, sogst du mit deinen Au¬gen das Licht der ganzen Welt in dich hinein ..."
Am Ende der Totenklage ist für die Mutter durch den Tod des Sohns das Licht erloschen und damit "auch unser Volk". Dieses Schicksal wollte Jannis Ritsos jedoch nicht hinnehmen. Da hatte er längst eine eindeutige politische Position bezogen, linksaußen, als Mitglied der Kommunistischen Partei. "Alpha, Beta, Gamma" heißt ein Gedichtzyklus, von ihm selbst in den 1970er-Jahren gelesen, in dem er seine Erfahrungen rekapitulierte.
Lesung des Gedichts "A, B, C":
"Von Anfang an lernten wir das Alphabet, von Anfang an lernten wir die Angst und den Schmerz. "Aber die Freiheit, schrieb Ritsos und versprach er seinen "Genossen", "ist nicht weit ..."
Erste Gedichte in Flaschen im Sand versteckt
Geboren am 1. Mai 1909 als Sohn einer reichen Familie in Monemvasia auf dem Peloponnes, war seine Kindheit durch das Erlebnis einer gesellschaftlichen Deklassierung infolge eines sozialen Absturzes des Vaters geprägt worden. Als früh auch eine Tuberkulose diagnostiziert wurde, wurde er noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt und erfuhr in Sanatorien die gröbsten Vernachlässigungen und Demütigungen. Statt sich in seinem Leiden zu versperren, begann er nach seinen Worten ein "Geschichtsstudium der Vergangenheit und der Zukunft in der modernen Schule des Widerstands" und engagierte sich in den 1930er-Jahren gegen die Diktatur des Generals Ioannis Metaxas, der Ritsos' erste Lyrikbände "Traktor" und "Pyramiden" sowie die Totenklage "Epitaphios" öffentlich verbrennen ließ. Auch nach Ende des 2. Weltkriegs, in dem Ritsos als Partisan gegen die deutschen Besatzungstruppen gekämpft hatte, hörte die griechische Bürgerkriegssituation nicht auf, sodass der Autor von 1948 bis 1952 inhaftiert wurde - damals notierte er seine Lyrik auf Gefängnisinseln wie Limnos oder Makronisos, heimlich auf Zetteln, die in Flaschen versteckt und im Sand eingebuddelt wurden.
300 Ermordete allein auf Makronisos, 600 Gefangene seien irrsinnig geworden, 900 hätten sich nur hinkend fortbewegen können. "Sie verlangen das Brot zurück, das sie nicht aßen, " schrieb Ritsos. "Die Toten verlangen ihr Leben zurück." Die Peinigung durch Verfolgung und Einzelhaft traf Ritsos noch einmal Ende der 1960er-Jahre während der Zeit der Diktatur durch die Militärobristen, die aber schließlich vor einer anderen Macht, der der Weltöffentlichkeit, zurückweichen mussten. Kein Geringerer als Louis Aragon hatte Jannis Ritsos zum "größten lebenden Dichter" ernannt. Da war neben den politischen Kampfgesängen auch der neue lyrische Ton wahrgenommen worden, den Ritsos in Büchern wie "Mondscheinsonate" oder "Steinerne Zeit" in die griechische Lyrik hineingebrachte hatte, indem er mit seinem anderen Verständnis des "Griechentums" alle romantischen Verklärungen der griechischen Landschaft ausblendete:
Lesung: Unter den Augen des Wächters
"Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen. In ihrem Licht die verwaisten Ölbäume und Weinstöcke. Es gibt kein Wasser, nur Licht ... "
Trotz seiner seit früher Jugend angegriffenen und in den langen Jahren der Haft zusätzlich ruinierten Gesundheit hat Ritsos, wie er selbst überrascht bei seinem 70. und 80. Geburtstag feststellte, ein hohes Alter erreicht. Er starb am 11. November 1990 mit 81 Jahren in seiner Athener Wohnung.