Rikscha-Fahren in Berlin

Krisenrallye durch die Hauptstadt

Rikscha von MS Schrittmacher vor der Staatsoper-Baustelle in Berlin
Rikscha von MS Schrittmacher vor der Staatsoper-Baustelle in Berlin © MS Schrittmacher
Von Gerd Brendel · 26.08.2015
Fahrrad-Rikschas gehören vor allem im Sommer inzwischen zum Berliner Stadtbild. Das Performance-Kollektiv MS Schrittmacher bietet besonders ausgefallene Touren an - auf den Spuren von Finanzskandalen und sozialer Ungerechtigkeit. Doch eines fehlt im Skript des Rikscha-Fahrers.
Wir sind auf dem Alexanderplatz , das ist der Start unser "Guided Riksha Tour" und hier geht's los. Martin Stiefermann, Regisseur, Darstelller der Performancegruppe "MS Schrittmacher" und an diesem Nachmittag mein persönlicher Rikscha-Fahrer und Guide zu Berliner Krisenorten begrüßt mich unter der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz.
"Places and Traces", Plätze und Spuren, hat er seine Tour genannt, eine theatralische Annäherung an das Thema Krise in acht Stationen. Zu jeder Station gibt es ein Video, danach Hintergrundinformationen und -texte, Reden, Gedichte etc.
"Der Alexanderplatz. Jede revolutionäre Bewegung , befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war , geht uns auf einmal frei über die Lippen."
Auf dem Alexanderplatz liest Stiefermann aus der Rede der Schriftstellerin Christa Wolff am 4. November 1989 auf der legendären Demonstration für eine demokratische DDR. Daran, dass hier nicht nur in der Wende- Krisen-Zeit demonstriert wurde, sondern immer wieder bis heute, erinnert das Video , das mir Stiefermann auf seinem Tablet zeigt: Ein Tänzer mit einem "No"-Transparent zwischen Touristen und Passanten am gleichen Ort.
Bilder vom Tablet und sozialkritische Lyrik
Danach wird die reale Stadt zur Bühne: Die Fahrt geht los vorbei an Passanten und Autos im Feierabendstau. Vor dem Roten Rathaus, dem Sitz der Berliner Landesregierung ein paar Meter weiter, liest mein Rikscha-Chauffeur ein Interview mit dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses zur Dauerbaustelle Berliner Großflughafen, vor der Baustelle des Berliner Schlosses die Geschichte des Bauwerks als modernes Märchen, und sozialkritische Lyrik aus dem 19. Jahrhundert:
"Wenn Armut solche Schlösser hasst , wo Übermut und Reichtum prasst. Hat Reichtum sich hier tot gebaut?"
Statt einer Antwort gibt es auf dem Tablet ein Video, gedreht vor zwei Jahren, als vom Schlossneubau noch nichts außer Sandberge zu sehen war. Ein Tänzerin mit Diadem und Reifrock springt munter zwischen Kränen umher und baut eine Sandburg. "Das Schloss braucht eine Königin", lautet der letzte Satz des Textes. Aber wenn dem nachgebauten Schloss eine Königin fehlt, was fehlt dann der Rikscha-Performance von "MS Schrittmacher"?
Spätestens nach der übernächsten Station vor der "Schuldenuhr" am Hauptstadtbüro des Bundes deutscher Steuerzahler beginnen die Millionen und Milliardenbeträge, die mir mein Rikschafahrer zu Berlins Großbaustellen, Staatsoper-Sanierung und dem Vermögen der Handvoll deutscher Superreicher vorträgt, in meinem Kopf einen ganz eigenen Tanz und trudeln langsam Richtung Vergessen.
"Es darf immer nachgefragt werden!"
Bunte Dekoschleifen für die harte Realität
Aber bei durch soviel durch Zahlenmaterial gestützter moralischer Entrüstung über Verschwendung öffentlicher Gelder und private Gier ist mir die Lust danach vergangen. Die Tanzvideos wirken mit einem Mal wie bunte Dekoschleifen für die harte Realität. Das verfremdende Element der Filme wird unter der Macht des Faktischen begraben, fast so als würden der Regisseur und seine Performer den nüchternen Texten mehr vertrauen, als ihrem Metier Theater.
Was bleibt, sind die Strecken zwischen den Stationen, wenn der Fahrgast zum Zuschauer der realen Stadtszenerie wird und zu ihrem exotischen Darsteller gleichermaßen, verfolgt von den Blicken der Passanten. Fahrrad-Rikscha - ist das nicht ein Verkehrsmittel, aus den Ländern der sogenannten Dritten Welt, gerne benutzt von beleibten Touristen oder wohlhabenderen Einheimischen? Und was bedeutet es eigentlich, dass diese Rikschas seit einigen Jahren deutsche Großstädte erobern?
"Es darf immer nachgefragt werden!"
ruft der strampelnde Regisseur seinem Fahrgast zu. Nur die Antworten auf diese Fragen fehlen in seinem Skript.

Die Touren laufen noch bis zum 1. Oktober. Mehr Infos auf der Webseite des Performance-Kollektivs MS Schrittmacher

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