Rhythmisches Rauschen

Von Christine Kewitz · 22.06.2013
Die Welt ist visuell dominiert, der Hörsinn ist zweitrangig. Alltagsgeräusche werden meist erst dann wahrgenommen, wenn sie stören. Forscher im interdisziplinären Studiengang Sound Studies an der Universität der Künste Berlin wollen das ändern - und arbeiten sogar an einem neuen Klang der Stadt.
Warum hält man sich in an bestimmten Orten lieber auf als an anderen? Warum ist der Potsdamer Platz in Berlin zwar optisch wirkungsvoll, aber trotzdem ungemütlich und kalt? Und wieso ist der Kreisverkehr um den Arc de Triomphe erträglicher als der wesentlich Kleinere am Berliner Ernst Reuter Platz? Fragen, die man oft nicht mit rein optischen Kriterien beantworten kann. Für das Erleben des Raumes ist auch der Klang, die auditive Erfahrung mitverantwortlich.

Die Wissenschaft zum Akustischen nennt sich Klangforschung oder Sound Studies und kann unter anderem in Berlin studiert werden. Ein Schwerpunktfach dabei ist die Auditive Architektur, wo Architekten akustisches Bewusstsein vermittelt werden soll.

Professor Alex Arteaga, Leiter der Forschungsgruppe Auditive Architektur:

"Wir arbeiten jetzt mit Architekten, auch mit professionellen Architekten, die plötzlich Sachen entdecken, wo man denkt, du bist schon 20 Jahre in der Praxis. Es wäre wichtig, dass der Architekt sich viel mehr und viel intensiver mit Raum - und zwar auch multisensorisch - auseinandersetzt, als das jetzt der Fall ist in der Ausbildung."

Der öffentliche akustische Ballungsraum ist das Klangbild einer Stadt. Kaum jemand kennt die Geräusche bestimmter Städte so genau wie Peter Cusack. Der Londoner Musiker und Klangkünstler war Mitgründer des London College of Communication, in dem auch Klangkunst zum Studium gehört. In einem fortlaufenden Projekt realisiert Peter Cusack akustische Porträts von Städten. Seine erste auditive Landkarte erstellte er 1998 von seiner Heimatstadt London.

Lautes London, ruhiges Berlin
Als er vor zwei Jahren nach Berlin zog, bemerkte er als erstes, dass Berlin viel leiser ist als London, wo permanent Flugzeuge über die Stadt hinweg fliegen und sich die Geräusche in den engeren Straßen potenzieren. Auch die typische Hinterhof-Bauweise der Berliner Architektur erzeugt ruhige Orte, die für eine Großstadt eher ungewöhnlich sind.

Peter Cusack: "Es gibt vor allem zwei charakteristische Sounds, die man überall in der ganzen Stadt hört. Zum einen die S-Bahn. Züge, die langsamer und schneller werden, die hört man in ganz Berlin. Auch aus großer Entfernung, man muss gar nicht in der Nähe sein. Zum anderen sind das Kirchenglocken, die fast täglich um 12 und um sechs Uhr läuten. Das alles gibt der Stadt eine akustische Einheit."

Das visuelle und auditive Zusammenspiel an Orten – also das was wir sehen und gleichzeitig hören - ist auch ein Thema der Klangforschung.

Der Musiker, Komponist und Klangkünstler Sam Auinger bemerkt sofort, wenn beides nicht zusammenpasst:

"Wir befinden uns jetzt im Garten eines Wohnhauses am Prenzlauer Berg. Wir sitzen gerade in so einer kleinen Laube vor einem Büro, es ist wunderschön grün hier, die Anmutung ist eigentlich friedlich und ruhig. Akustisch oder auditiv befinden wir uns aber auf einer Baustelle. Im Nebenhof wird gerade beim Sportplatz irgendwas repariert. Wir hören die Baumaschinen und haben es damit sozusagen mit einer gewissen schizophrenen Situation zu tun, das heißt, dass visuelle und auditive Anmutung nicht kongruent sind."

Gibt es eine Disharmonie zwischen Aussehen und Klang eines Ortes, ist das Gehirn dazu fähig, die Störelemente herauszufiltern. Bedeutet: Der für eine gemütliche Gartenatmosphäre als unpassend empfundene Bagger wird – soweit wie möglich – ausgeblendet und nicht mehr wahrgenommen.

Sam Auinger ist ein akustischer Vordenker und arbeitet eng mit Stadtplanern und Architekten zusammen. In seinen künstlerischen Arbeiten beschäftigt er sich unter anderem mit der Transformation von Umgebungsgeräuschen. Um zum Beispiel das Geräusch eines über eine Brücke fahrenden Autos in einen harmonischen Klang umzuwandeln, benutzt er Resonanzröhren.

Eine vorne an der Brücke befestigte Röhre nimmt das Motorengeräusch auf, beginnt zu schwingen und lässt die mitschwingenden, hochfrequenten Obertöne hervortreten. Da die Röhren je nach Länge eine bestimmte Tonleiter erklingen lassen, hören wir nun die harmonischen Obertöne dieser Tonleiter, die über Mikrofone und 180 Grad-Lautsprecher verstärkt werden. So ergibt sich insgesamt ein Hörbild aus ungefilterten Motorengeräuschen, Gesprächen oder Vogelstimmen und gleichzeitig die geordnete Transformation davon.

Sam Auinger : "Sie können dort von den kleinen Wellen, bis zu den Vögeln und sonstigen Dingen, Sie können einfach diesen großen Raum in seiner ganzen Topographie und Geographie wahrnehmen. Und was natürlich auch noch ganz interessant ist, wir sind ja Menschen, die öfter solche Sachen machen, dann darauf gekommen, dass man unglaublich viele Dinge hören kann. Sie können die Temperatur hören, sie können den Luftdruck hören, Sie können alle diese Dinge hören, weil sich zum Beispiel Schall einfach verändert mit der Temperatur.""

Problemfall Ernst-Reuter-Platz
Auch diese Veränderung von Geräuschen ist Thema der Klangforschung, ebenso wie die akustische Neuordnung von öffentlichen Räumen. Ein Beispiel dafür ist der Ernst-Reuter-Platz - in den 50er-Jahren ein Prestigeobjekt Westberliner Nachkriegsmoderne. Ein lichtdurchfluteter vierspuriger Kreisverkehr, der mit den ihn umgebenden Hochhäusern Zeichensetzung für eine neue Ära war. Heute wird der Platz von den Menschen, die ihn regelmäßig überqueren, als störender Ort wahrgenommen, doch keiner weiß so recht, woran das genau liegt. Da der Platz unter Denkmalschutz steht, ist eine neue Bebauung ausgeschlossen und somit die Veränderung der visuellen Komponente.

Professor Alex Arteaga auf dem Ernst Reuter Platz:

"Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem künstlerischen architektonischen Wert dieses Platzes und der Nutzung. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass viele Büroräume leer stehen. Das ist auch ein Indikator, dass irgendwas an dem Platz nicht gut funktioniert. Das liegt nicht an dem Immobilienpreis, sondern an bestimmten Nutzungsproblemen des Platzes, die aber nicht unbedingt bekannt sind."

Um herauszufinden, was am Ernst-Reuter-Platz besser laufen könnte, bedarf es langwieriger Forschungen. Denn die subjektiven Empfindungen der Menschen und die Ursache des Problems müssen nicht unbedingt übereinstimmen.

Thomas Kusitzky von der Forschungsgruppe Auditive Architektur:

"Die meisten Leute, wenn man sie fragt, was ist das Problem hier am Ernst-Reuter-Platz, also Leute, die täglich hier rüber gehen, sagen, er ist zu laut. Wenn man dem aber ein bisschen mehr auf den Grund geht, merkt man, dass es da andere Bedingungen dafür gibt, dass man ihn als störend empfindet, den Platz. Es ist die Frage, ob sie das dann wirklich als Lärm empfinden, also mit Lautstärke hat das teilweise zu tun, muss aber nicht unbedingt. Weil, man kann auch einen tropfenden Wasserhahn als Lärm empfinden.

Am Ernst-Reuter-Platz ist wahrscheinlich eher die klangliche Monotonie schuld an der wenig einladenden Atmosphäre. Die Autos rauschen konsequent über den Kreis ohne erkennbaren Rhythmus und ohne Pausen, in denen andere Geräusche die Oberhand gewinnen könnten. Möglicherweise, so Kusitzky, wäre eine rhythmisierte Ampelschaltung, die Pausen, Takte und akustische Abwechslung schafft, ein Teil der Lösung.

Wir können unsere Ohren nicht verschließen. Wir hören Tag und Nacht. Vom Mutterbauch bis zum Sterbebett nimmt unser Gehirn ununterbrochen Geräusche und Klänge auf, um diese zu verarbeiten. Wie essentiell also die Klangumwelt für uns ist und wie stiefmütterlich der Hörsinn oft behandelt wird, machen sich in einer vom Visuellen dominierten Welt bis jetzt noch wenige Menschen bewusst.

Peter Cusack: "Das allgegenwärtige Geräusch auf der ganzen Welt ist Verkehrslärm. Gefolgt von Fluglärm, würde ich sagen. Wenn wir das reduzieren, bräuchten wir auch keine akustische Ökologie oder Soundscape-Forschung mehr. Ich bin dafür, dass wir es dem Transportwesen schwerer machen, unsere KIanglandschaft zu dominieren."

Diese wunderbare Lösung ist leider nicht ganz praktikabel und das ist die Schwierigkeit bei der Soundforschung. Gibt es ein visuelles Problem, kann man eine Wand davor stellen, die Farbe neu streichen oder es mit Efeu beranken. Ein akustisches Störsignal ist viel schwieriger einzufangen und zu beheben. Belastende Schallquellen wie zum Beispiel Flughäfen stehen oft in einem größeren Zusammenhang, der die Lautstärke quasi legitimiert und zu einem notwendigen Übel werden lassen kann. Zu beobachten war dieser Zwiespalt nach dem Vulkanausbruch in Island als die ausgetretene Vulkanasche den Flugverkehr in großen Teilen Europas lahm legte und damit auch den Frankfurter Flughafen.

Sam Auinger: "Am ersten Tag kein Flugverkehr – super, so klasse, irre. Zweiter Tag – die Stadt ist einfach so toll, so großartig. Ab dem dritten Tag hat die Stadt sich angefangen zu wundern: Wie geht's weiter, was bedeutet das? Und ab dem vierten Tag hat man sich total den Flugverkehr zurückgewünscht, weil man total Angst hatte, dass die Stadt wirtschaftlich zusammenbricht. Weil das einfach alles so vernetzt ist miteinander, dass man das irgendwann auch gern in Kauf nimmt. Weil 30 Prozent der Jobs und des Wirtschaftsaufkommens in Frankfurt alle rund um diesen Flughafen irgendwie gebaut sind."

Für eine akustisch verantwortungsvolle Architektur und Stadtplanung braucht es viel Zeit und Forschung. Jeder Ort ist individuell zu betrachten: Was passiert hier, wer hält sich hier auf, was zeichnet die Umgebung aus? All diese Fragen müssen beachtet werden. Auditive Architektur ist das Gegenteil von planerischen Schnellschüssen.
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