Revolution und Emanzipation

Von Hartmut Krug · 05.05.2013
Lange ist dieses Stück von Heiner Müller nicht mehr gespielt worden. Nun bringt Dimiter Gotscheff "Zement" am Münchner Residenztheater auf die Bühne. Mit viel Pathos erzählt er vom Scheitern einer Revolution - und den Schwierigkeiten der Emanzipation der Geschlechter.
Der Abend beginnt mit einem Auftritt des Regisseurs, der Worte seines verehrten Autors "Müller, Heiner aus Mommsens Block" zu "Zement" zwar leicht nuschlig, aber doch in seiner Beiläufigkeit recht wichtigtuerisch vorliest. Dann schlüpft aus den Schlitzen des hellgrauen Stoffes, der den leeren, offenen Spielraum und dessen niedriges Podest einhüllt, der Chor der Arbeiter (und Toten?). Wie die Bühne, so sind auch die Kostüme von Ezio Toffolutti gestaltet, und alles ist wieder so wie in Inszenierungen dereinst bei Benno Besson an der Berliner Volksbühne. Der Chor, gekleidet in helle Stofffetzen, hat die Gesichter mit beigen Stoffmasken verhüllt, und wenn er sich mit einem "Pamagite-" Schrei hilfesuchend zusammenballt, die Münder verzerrt, die Augen aufgerissen, ergibt das ein ästhetisch attraktives Gruppenbild, dem ähnliche folgen.

"Gleb Tschumalow, Soldat der Roten Armee, heimkehrend aus dem Krieg, findet seine Stadt in ein Dorf verwandelt, das Zementwerk in einen Ziegenstall, seine Frau in einen Menschen." So beschreibt das Programmheft des Berliner Ensembles zur Uraufführung von Heiner Müllers Auftragswerk "Zement" durch Ruth Berghaus im Oktober 1973 das Stück. Die Aufführung fand am 55.Jahrestag der Oktoberrevolution statt. Geschrieben nach der Vorlage eines Romans von Fjodor Gladkow aus dem Jahr 1926, verhandelt das Stück über die Entwicklung nach der Oktoberrevolution die Frage, wie eine neue Gesellschaft aufgebaut und neue, selbstbestimmte Menschen sich entwickeln können.

Typen und Terror, Bürokratie und Selbsthelfertum
Das Stück ist lange nicht mehr gespielt worden. Nachdem in der ersten Hälfte der 90er-Jahre im Rückblick auf den Untergang der DDR Inszenierungen an der Berliner Volksbühne und in Magdeburg und Bochum versuchten, eine gescheiterte sozialistische Utopie nach ihren Irrtümern und verpassten Möglichkeiten zu befragen, folgte 2006 noch eine Leipziger Inszenierung von Konstanze Lauterbach, die das Stück vor allem als Folie nahm, vor der sie sich mit den Schwierigkeiten der Veränderung menschlichen Verhaltens auseinandersetzte.

Dimiter Gotscheff versucht beides: das Scheitern einer Revolution und zugleich die Schwierigkeiten der Emanzipation beider Geschlechter zu befragen. Und so zerfällt der Abend in zwei Teile. Der erste wird geprägt von den ehern pathetischen Bedeutungstexten Heiner Müllers, der mit einem Panorama von Menschen und Haltungen, von Typen und Terror, von Bürokratie und Selbsthelfertum nach Wesen und Entwicklung einer Revolution fragt. Wenn Sebastian Blomberg als Gleb Tschumalow, schmutzverschmiert und versteckt unter einer Wolldecke, bei der Rückkehr aus dem Krieg einen mächtigen Steinblock (oder Grabstein) auf die Bühne wuchtet, ist klar: Hier trägt einer schwer an der Vergangenheit, wird aber für die Zukunft kämpfen.

Und so staunt und zweifelt Blombergs kraftvoller Gleb immer wieder an der Entwicklung der Revolution und erlebt, wie sie ihre Kinder frisst. Wie die kriegs- und todessüchtige, der Liebe abschwörende Polja (Genija Rykova gibt Müllers unglaubwürdigen Figur eine schön zurückhaltende Statur) und den seine bürgerliche Abstammung mit Terror-Wahn bekämpfenden Iwagin (Lukas Turtur), die sich beide, anders als bei Müller, darauf selbst erschießen. Während der jeder Parteilosungs-Änderung ergebene bürokratische Vorsitzende Badjin (Aurel Manthei), am historischen Mikrofon wütend (und auf Stalin anspielend), eine Rede gegen angebliche Verräter hält und mit der Neuen Ökonomischen Politik eine Pause der Revolution einläutet.

Der Text gleicht einer Todestriebmaschine
Aber all die langen, pathosschwangeren Texte Müllers zu Revolution und Geschichte wirken heute seltsam hohl. Warum Gotscheff sie so ausführlich ausspielt, sie sogar mit Zitaten aus Müllers "Auftrag" aufbläht, wird nicht klar. Wäre da nicht Valery Tscheplanova, die als Njurka, der bei Müller nur erwähnten, aber nicht auftretenden Tochter mit traurigem Gesang und mit fulminantem Vortrag von Müllers Zwischen-Texten zur antiken Mythologie das Publikum immer wieder hochreißt und zu Zwischenapplaus anregt - vor allem bei der "Befreiung des Prometheus". Aber auch sie kann nicht verhindern, dass beim unendlichen "Herakles 2 oder Die Hydra" das Publikum weitgehend wegdriftet. Kein Wunder bei diesem ratternden Lese-Text, der einer Todestriebmaschine gleicht, in der sich Herakles in einen Kampf mit sich selbst verstrickt. Bei ihm nähert sich der durch eine technische Panne unterbrochene Abend aber auch schon seiner vierten Stunde.

Warum nur dieser "Zement" heute? Warum nur wird Müllers prasselnde, männliche Bedeutungsprosa, die neben einigen tollen Sentenzen doch so viel peinlich pathetisches Gerede enthält, so ausführlich vorgetragen? Man stöhnt innerlich und versucht genervt, sich an die andere Ebene des Stücks zu halten, die das Lied von der Emanzipation der Frau zum selbstbestimmten Menschen zu singen versucht.

Bibiana Beglau, knochig schlank und steif verloren im zu großen Militärmantel mit hochgeschlagenem Kragen, wirkt als Glebs Frau Dascha auf dem Weg in die Emanzipation wie gefangen im neuen Gefängnis der Ideologie - und zugleich ist sie verwirrt bei ihrer (auch sexuellen) Selbstfindung. Kein Wunder, schreibt ihr Müller doch sauren Sexualkitsch zu, mit Lust nach der Peitsche und einer radikalen Unverständlichkeit mit sich selbst. (Schon Walter Benjamin versuchte sich bei einer Rezension des Romans von Gladkow 1972 dieser Figur als einem politischen Rätsel und einem Sphinxgesicht zu nähern.)

Ein enorm zäher und angestrengter Abend
Die suchenden Streitszenen zwischen Dascha und Gleb sind, bei all ihrer Plakativität und deutlich theoretischen Ausgedachtheit, schauspielerische Höhepunkte eines enorm zähen und angestrengten Abends. Wunderbar, wie Sebastian Blombergs Gleb aus aufgeblasener Männlichkeit in hilflose Lernwilligkeit verfällt. Schrecklich, wie Bibiana Beglaus Dascha den Hungertod des gemeinsamen Kindes im Kinderheim mit der Wichtigkeit ihrer politisch-gesellschaftlichen Arbeit zu bewältigen sucht, und verstörend, wie ihre unsichere tiefe Kälte als Ausdruck der eigenen radikalen Unverständlichkeit mit sich selbst wirkt.

Aber dann stelzt der Abend immer wieder in Müllers und seiner eigenen Bedeutsamkeit vor sich hin. Obwohl Gotscheff manch spielerische, ja, sogar komische Elemente einbaut. So agiert der Chor, während Badjin einen Text diktiert, wie die Tasten der Schreibmaschine. Und die Begegnung zwischen Badjin und dem zu Recht eifersüchtigen Gleb entgleist zu einer urkomischen Macho-Prahl-Szene: Erst wettstreiten beide beim Hochstemmen von Glebs Stein, dann entblößen sie die Oberkörper, als wollten sie sich im Ringkampf messen.

Und irgendwann ist dann doch noch Schluss, nach vielen möglichen Schlüssen. Da steht er nun, der Held Gleb. Anders, aber noch kein neuer Mensch. Den Steinblock hochgestemmt. Ob er ihn wird halten können, erfahren wir nicht. Denn das Licht geht schnell aus.

"Zement" von Heiner Müller
Inszeniert von Dimiter Gotscheff
Residenztheater München
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