Revolution mit Omas Einkochglas

06.08.2013
Sie legen Gärten an, wecken ein oder stricken ihre Unterwäsche selbst. Selbstversorger-Gemeinschaften, die zusammen ernten, basteln oder feiern, gibt es in vielen deutschen Großstädten. Für die Akteure ist das eine hochpolitische Angelegenheit.
Gärtnern, Stricken, Einkochen: Das ist für eine wachsende Zahl von Großstadtbewohnern längst nicht mehr nur reines Privatvergnügen, sondern gemeinschaftliches politisches Handeln. Selbstorganisation und Eigeninitiative sind pragmatische Konsum- und Kapitalismuskritik. Auf fortschreitende Globalisierung wird mit Lokalisierung geantwortet.

"Do it yourself" und vor allem "Do it together" lautet die Devise. Und so informative wie inspirierende Beispiele dafür liefert dieses Buch in Mengen - von Werkstätten und Repair-Cafés bis hin zu Tausch- und Kunst-Events. Schillernd wie die Vielfalt der Projekte ist auch dieses Buch formal wie inhaltlich eine wunderbare Einladung zu einem mehr selbstbestimmtem Leben.

Vorgestellt werden in Wort und Bild unter anderem der mobile Gemeinschaftsgarten "Annalinde" in Leipzig, das "Allmende-Kontor" auf dem stillgelegten Flughafen Berlin-Tempelhof, das "Kartoffel-Kombinat" München oder das Projekt "Neuland" in Köln. Es sind allesamt Projekte im zwischengenutzten urbanen Raum, die sich als kollektive Gemeingüter verstehen - englisch "commons", was dem Buch seinen leicht aufmüpfigen Titel "Stadt der Commonisten" gegeben hat.

Herzstück des Bandes sind die Fotografien von Inga Kerber. Darauf zu sehen sind selbstgeerntete Lebensmittel in jeder Art und Form, improvisierte Gemüsebeete, umfunktionierte Industriebrachen und vor allem viele Menschen jeglichen Alters beim Gärtnern, Basteln, Essen und Feiern. 450 Fotos, großformatig, dann wieder in kleinen Sequenzen angeordnet mit bis zu 30 Abbildungen auf einer Buchseite, die mit ihren weißen Bildumrandungen und den matt-bearbeiteten Farben eine eigenwillige Ästhetik verströmen.

Der abgeblätterte Retro-Charme lässt sich als Botschaft gegen die Entwertung des Alten interpretieren. Das entsprechende Stichwort im Glossar mit rund 130 Stichworten, die in größeren Blöcken zwischen die Fotos gestreut sind, liefert den wissenschaftlichen Hintergrund.

"Retro ist die (sub)kulturelle Antwort auf die Fetischisierung des Neuen. Die ständige Entwertung des Bisherigen durch das Neue und die damit verbundene Zumutung des Anschlusses durch das Konsumentensubjekt ist ein sozialer Mechanismus, der das Subjekt in letzter Konsequenz selbst entwertet."

Unschwer zu erkennen, dass drei Soziologinnen - mit Forschungsschwerpunkten wie Subsistenz und nachhaltige Lebensstile - diesen Band herausgegeben haben. Ihre Sprache verzichtet trotzdem weitestgehend auf den ganz großen theoretischen Überbau und hantiert stattdessen mit praxisnahen Begriffs-Erklärungen zu Begriffen wie Beete, Mischkultur oder Schwein. Das ist "aus dem Leben gegriffen" schon deshalb, weil die hier vorgestellten Gruppen der "Selbermacher" ebenfalls pragmatisch und relativ unideologisch ans Werk gehen, zwecks besserer Vernetzung auch keine Berührungsängste mit neuen Medien haben.

Stichworte wie "Documenta" und der Kontext der "entgrenzenden und hochpolitischen" Kunst kommen überraschender daher, sie werden als größte Quelle des DIY genannt wird. Ein besonderes Beispiel findet man unter dem Stichwort "Rausfrauen" - das sind zwei Mittzwanzigerinnen, die Topflappen und Tangas (!) stricken und damit die künstlerisch-politische Geschlechterasymmetrie thematisieren:

"Jahrhundertelang haben Männer 'Kunst' gemacht und Frauen 'Handarbeit'. Wir holen diese Tätigkeiten raus aus dem privaten Raum und stellen sie mitten unter die Architekten und Bildhauer."

Rezensiert von Olga Hochweis

Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner: Stadt der Commonisten - Neue urbane Räume des Do it yourself
Transcript Verlag, Bielefeld 2013
232 Seiten, 450 farbige Abbildungen, 24,90 Euro
Mehr zum Thema