Revolte

Abrechnung mit den Eltern

Skateboarder, darunter auch ein Junge (2.v.r.), fahren im Abendlicht auf dem Tempelhofer Feld, dem größten Park Berlins, auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, in Berlin
Emmanuelle Bayamack-Tams Roman ist eine flamboyante Anklage aller Erwachsenen, ihrer Achtlosigkeit und Unaufrichtigkeit. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Von Dina Netz · 11.07.2014
In Emmanuelle Bayamack-Tams achtem Roman rechnet die französische Autorin mit der Welt der Erwachsenen ab. Sie gibt ihrer Protagonistin eine ganz eigene Sprache, teils hochpoetisch und klug über das Erzählen reflektierend, teils jugendlich derb.
Die Schlüsselszene steht gleich am Anfang von Emmanuelle Bayamack-Tams Romans: Kimberley ist neun Jahre alt, mit Eltern, Geschwistern, Großeltern am Strand. Etwas abseits im warmen Sand liegend, befriedigt sie sich selbst. Ihre Familie sieht nicht diskret weg oder schmunzelt heimlich - was die erwartbaren, respektvollen Reaktionen wären. Kimberleys Mutter verspottet sie, die älteren Schwestern lachen sie aus. So gedemütigt und verhöhnt, beschließt Kimberley, diesen Tag als den einer neuen Geburt zu betrachten. Sie will sich von der "physischen Linie" ihrer Familie loszusagen und künftig allein bleiben. Das klingt aus dem Mund einer Neunjährigen ziemlich hochtrabend. Aber Kimberley ist ein ungewöhnliches Mädchen, willensstark und intelligent.
Doch so ganz kann sie die Familie nicht hinter sich lassen, denn da sind noch die zwei jüngeren Brüder, für die sich die Eltern nicht interessieren, die zusammen in einem winzigen Verschlag hausen müssen. Kimberley kümmert sich um sie, so gut es eben geht, während sie gleichzeitig sich selbst entdeckt, ihren erwachenden Körper - und ihre Liebe zur Literatur. Als einer der beiden Brüder, der Rothaarige, der immer gehänselt wurde, sich im Garten erhängt, schwört Kimberley der Liebe und der Lust jedoch ab und prostituiert sich, um möglichst bald finanziell unabhängig zu sein.
Hochpoetisch und klug
Kimberleys Bericht in Emmanuelle Bayamack-Tams achtem Roman "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging" ist eine wütende Abrechnung mit den Eltern, eine flamboyante Anklage aller Erwachsenen, ihrer Achtlosigkeit und Unaufrichtigkeit. Bayamack-Tam gibt ihrer temperamentvollen Protagonistin eine ganz eigene Sprache, teils hochpoetisch und klug über das Erzählen reflektierend, teils jugendlich derb. Eigenartigerweise irritieren diese Wechsel der Sprachebenen beim Lesen gar nicht, denn sie entsprechen Kimberleys frühreifem, aber doch auch noch kindlichem Charakter.
Wäre "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging" nur der Aufschrei eines Mädchens, dessen Bruder die Gleichgültigkeit der Erwachsenen nicht überlebt hat, man könnte den Roman als - knallhartes und zugleich bezauberndes - Jugendbuch kategorisieren. Doch Emmanuelle Bayamack-Tam erzählt mehr. Sie erzählt auch davon, wie Verhaltensmuster sich durch Generationen hindurch fortsetzen. Denn Kimberleys Großeltern haben das "ergreifend hässliche Gesicht" ihrer Tochter bei der Geburt mit Entsetzen betrachtet, weil das Kind eine Hasenscharte hatte. Diese Tochter nun, Kimberleys Mutter, betreibt später einen um so größeren Kult um ihre Person, auf Kosten ihrer eigenen Kinder. Auch Lieblosigkeit kann sich also vererben, wenn nicht jemand, wie Kimberley, hellwach und mit dem Herzen am rechten Fleck, diese Kette zerreißt.

Emmanuelle Bayamack-Tam: Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac
Secession Verlag, Zürich 2014
346 Seiten, 24,95 Euro

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