Rettungseinsätze im Mittelmeer

Emotionale Achterbahn für Helfer

Ein Boot mit Flüchtlingen steht auf der Seite im Wasser, die Menschen fallen und springen zum Teil vom Boot ins Wasser.
Flüchtlinge auf dem Mittelmeer in Seenot © dpa/ANSA / ITALIAN NAVY
Von Gudula Geuther · 30.11.2016
Die "Siem Pilot" ist im Mittelmeer unterwegs, um schiffbrüchige Flüchtlinge zu retten. Die grausamsten Szenen dieser Einsätze kann man nicht zeigen - und doch haben die Helfer immer wieder auch das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
Die "Siem Pilot" liegt im Hafen von Catania. Paul-Erik Teigen steht am Rand des Decks, nahe der Brücke. Er zeigt auf eine Treppe. Hier kommen die Geretteten durch eine Tür in der Bordwand hinauf an Deck des norwegischen Versorgungsschiffes.
"Wenn wir im Rettungseinsatz sind und Migranten aufnehmen, bringen wir sie hier herein, nehmen ihnen die Schwimmwesten ab, desinfizieren Hände und Füße. Sie werden abgetastet und der Arzt macht eine erste Untersuchung. Wir geben ihnen Wasser, eine Decke und zu Essen."
Es ist der Alltag des Ausnahmezustands, den der norwegische Helfer im EU-Auftrag beschreibt. Er zeigt auf das offene Deck, über das bei Regen oder stechender Sonne Planen gespannt werden können. Beim letzten Einsatz fanden 140 Menschen Platz auf dem vielleicht 50 Meter langen Deck, 22 Seemeilen vor Tripolis war ein Schlauchboot gesunken. Oft aber drängen sich auf der kleinen Fläche mehr als 1000 Personen.
"Frauen und Kinder kommen hier vorn näher an den Medizinbereich, die Männer weiter hinten. Das dort ist der Kühlcontainer für die Toten. Und hier werden Kranke versorgt."

Die "Siem Pilot" steht unter Frontex-Kommando

Eigentlich wurde die 88 Meter lange "Siem Pilot" als Versorgungsschiff für Ölplattformen in der Nordsee gebaut. Jetzt steht sie unter dem Kommando der EU-Grenzschutzagentur Frontex, im Einsatz gegen Schmuggler. Und immer wieder auch unter dem Kommando der italienischen Küstenwache – wenn wieder ein Boot gesichtet wurde.
In der Operationszentrale im Schiffsinneren deutet Paul-Erik Teigen auf eine Seekarte des Mittelmeeres. Das Einsatzgebiet der "Siem Pilot" liegt im Norden, die Rettungseinsätze finden vor der libyschen Küste statt. Sieben Stunden braucht das Schiff dorthin.
Was die Helfer dann sehen, haben sie in Videos festgehalten. Immer wieder überfüllte Boote, die schwierige Rettung, bei der die Gefahr besteht, dass die Menschen ins Wasser springen oder das Schlauchboot zum Kentern bringen. Diese Szenen landen auch im Fernsehen.

Verätzt von Treibstoff und Salzwasser

Andere nicht. Wenn die Helfer zum Beispiel ein verlassenes Boot filmen, in dem mehrere Leichen liegen, verätzt von einem Gemisch aus Treibstoff und Salzwasser. Der Kapitän zeigt Bilder aufgedunsener Körper, die an Deck seziert werden.
Bei einem Einsatz traf das Rettungsschiff auf nackte, völlig erschöpfte, apathische Männer, die die Helfer nur mit großer Mühe an Board ziehen konnten. Und immer wieder sehen sie Reste von Schlauchbooten. Der Tod ist alltäglich auf dem Mittelmeer.
"Wir haben drei kleine Kinder unter fünf Jahren im Meer gefunden. Wir haben zwei Frauen gefunden und eine der Frauen hielt sich an der anderen fest, die war tot. Wir haben sie um ein Uhr Nachmittags gefunden. Sie hatten keine Uhr dabei, aber sie sagten, es war dunkel, als die Boote gesunken sind."
Boote, die in den vergangenen zwei Jahren immer voller geworden sind, erklärt Izabella Cooper. Sie ist eine Sprecherin der EU-Agentur Frontex, die sich um den Grenz- und Küstenschutz kümmert. Die Schmuggler würden immer skrupelloser, sagt sie.
"Heute sind zuweilen 30 bis 60 Prozent mehr Migranten auf den Booten als noch vor zwei Jahren. Da haben wir selten gesehen, dass mehr als 100 Leute in diesen zehn bis 12 Meter langen Schlauchbooten saßen. Heute ist es nicht ungewöhnlich, 150 oder sogar 160 zu sehen."

Die Schlauchboote scheitern an der nächsten Welle

Das geht, weil die Schmuggler die Menschen auch auf den Gummirand setzen – solche Boote halten keine etwas größere Welle aus, sagt der Kapitän.
"Aber auch die Qualität des Gummis ist viel schlechter geworden. Es ist viel dünner. Es war eine kräftigere, schwarze Folie. Jetzt ist sie dünner, leichter. Die Fahrt ist sehr viel tödlicher, gefährlicher."
Am Tag des Besuchs auf der "Siem Pilot" ertranken wahrscheinlich 135 Schiffbrüchige vor der libyschen Küste. 95 weitere wurden am Tag danach vermisst. Mit ihnen zählt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen 4500 Tote in diesem Jahr.
Wie geht der norwegische Helfer Paul-Erik Teigen damit um?
"Es ist eine emotionale Achterbahn. Hier auf dem Schiff wurde neulich ein Kind geboren. Und dann die Toten. Man geht das ganze Leben lang auf einem schmalen Grat. Man kann herunterfallen, wenn man gerade geboren ist, man kann herunterfallen, wenn man 80 Jahre alt ist."
In seinem norwegischen Heimatort leitet Teigen die polizeiliche Einsatzzentrale. Er hat sich freiwillig gemeldet, vier Mal vier Wochen, es sind die letzten Tage seiner Abordnung. Er spricht von der Verantwortung, von der Kameradschaft an Bord, wie viel er gelernt hat. Und er zeigt auf das Foto zweier lachender, geretteter Kinder. Dafür, so sagt er, machten sie das.

"Wir wissen, dass wir etwas bewirken"

Wir versuchen etwas zu bewirken, sagt sein Kollege Rune Frekhaug.
"Du weißt, wenn Du hier herkommst, dass Du Menschen retten wirst. Hier zu sein gibt einem das Gefühl, etwas Richtiges zu machen. Wenn wir nicht hier wären, würden viele Menschen ertrinken. Wir sind nicht die, die die Schlauchboote zu uns rufen. Schlimm ist, dass Menschen ertrinken. Und Du weißt, dass Leute durch ganz Afrika reisen, viele sterben dort. Und viele sterben auf dem Weg von Libyen nach Italien. Aber wir wissen, dass wir etwas bewirken."
Die Geretteten kommen in Lager in Italien: Gelb, lachs- und orangefarben leuchten die Reihenhäuser – ein großer Kontrast zum grün und grau Siziliens hier im Inneren der Insel. In den Häusern waren einst US-Soldaten stationiert, nun dienen sie als Flüchtlingsunterkünfte. Rund 3000 Menschen sind es im Lager in Mineo. Sie leben in Mehrfamilienhäusern an einer mit Bäumen gesäumten Teerstraße und gehören zur kleinen Minderheit, die gute Aussichten auf ein Aufenthaltsrecht in Europa hat. Wie Marcial, der aus Kamerun geflohen ist.
"Wegen Boko Haram. Sie haben meine beiden Eltern getötet und alles niedergebrannt. Weil uns Boko Haram nicht sehen will. Das ist die Wahrheit."
Vor zwei Wochen, nach sieben Monaten Warten in Italien, haben die italienischen Behörden Marcial den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Anfang 20-Jährige ist glücklich, dass er damit in Italien bleiben kann.
"Sie haben uns auf dem Meer aufgenommen. Sie haben uns das Leben gerettet. Wir sind endlich in Italien. Hier ist es gut, hier ist es ruhig."

Nur 4 Prozent der Umverteilung wurde bisher umgesetzt

Bei weitem nicht alle wollen allerdings in Italien bleiben, wo es kaum Arbeit für Migranten gibt. Auelkér, schmales Gesicht, kurze Locken, beginnt zu erzählen. Dann kommen etwa 20, 30 Landsleute von ihm aus Eritrea dazu, sie alle haben Verwandte in anderen EU-Staaten, sagen sie.
"Als wir am Hafen angekommen sind, haben Sie mir gesagt, in spätestens drei Monaten kämen wir in ein anderes Land. Das ist sechs Monate her. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Nur wenige haben die Chance. Und es ist ein Glücksspiel. Leute die nach uns gekommen sind, wurden uns vorgezogen. Wie kann das sein?"
Wie dieser Gruppe von Eritreern geht es vielen im Lager Mineo auf Sizilien, sagt der Direktor des Lagers Sebastiano Maccarone.
"Wir gehen davon aus, dass die meisten Eritreer letztendlich nicht in Italien bleiben werden, sondern nach Nordeuropa gehen werden, weil Sie dort Familienangehörige haben, zu denen sie möchten. Deshalb warten sie, dass diese Staaten das OK geben, damit sie dort hingehen und dort ihren Antrag stellen können."
Was Maccarone beschreibt, worauf die Flüchtlinge hoffen, ist die Umverteilung in Europa. Im September letzten Jahres hatten die Innenminister aller EU-Staaten beschlossen, dass 160.000 Menschen, die vor allem in den Erstaufnahmeländern wie Griechenland und Italien angekommen sind, umverteilt werden. Bisher haben die anderen Staaten aber nur rund 6.000 Menschen aufgenommen – Also etwa vier Prozent der Zusage. Ein Bruchteil. Was das für Mineo heißt, erklärt Direktor Maccarone:
"Es kommen sehr wenige Angebote. Mal drei, mal fünf Plätze in Bulgarien, Rumänien, sieben auf Malta. Wir sprechen hier von zahlen, die absolut nicht der Nachfrage unserer Migranten entsprechen."
Für die Umverteilung kommt nur in Frage, wer aller Wahrscheinlichkeit nach Anspruch auf Schutz hat. Übersetzt in die Regeln der Verwaltung heißt das: Mindestens 75 Prozent Anerkennungsquote für Menschen aus dem Herkunftsland. Wie bei Syrern, Irakern und eben Eritreern. Besonders Schutzbedürftige haben Vorrang: Schwangere, Mütter mit kleinen Kindern, Traumatisierte. Die strengen Vorgaben bedeuten zum Beispiel für Josué, dass er von vorne anfangen muss. Er kommt aus der Zentralafrikanischen Republik. Die Anerkennungsquote ist gerade gesunken – nach Monaten der Hoffnung und des Wartens ist er aus dem Eu-weiten Verteilungsprogramm gefallen. Wird er sich jetzt um italienisches Asyl bemühen?
"Einen Asylantrag stellen, jetzt, nach all der Zeit die vergangen ist? Ich habe echt keinen Kopf mehr, darüber nachzudenken, wir warten und warten."

500 Menschen aus Italien nach Deutschland pro Monat

Um das Wohl der Flüchtlinge ging es bei der EU-weiten Verteilung auch nie, sondern um die Unterstützung der Erstaufnahmestaaten. Dass z. B. Italien belastet sei, bekommen die deutschen Journalisten auch in Rom zu hören. Jahrelang habe es sich Europa zu einfach gemacht, sagt Präfekt Mario Morcone, Chef der Einwanderungsbehörde im Innenministerium. Man habe Italien gar noch das frühere italienische Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum übel genommen.
"Man nannte Mare Nostrum einen Pull-Faktor und machte das Problem zu einem Italiens. Bis sich die Balkan-Route auftat und die Leute bis nach Frankfurt kamen. Und vielleicht war es das, was unseren Freunden gezeigt hat, dass das Problem ein bisschen größer war."
Das europäische, nicht das italienische Problem, betont Morcone. Denn die Grenzen Italiens seien europäische Außengrenzen. Der Präfekt hat Freude an der sarkastischen Wortwahl. Auch als er lobende Worte findet für die internationale Unterstützung bei der Seenotrettung.
"Auch die Engländer, die an sich die Europäische Union verlassen wollen, kamen gern, um die Migranten aufzunehmen und dann nach Sizilien zu bringen. Es kommt das englische, das französische Fernsehen, Fotografen von überall. Die Migranten bleiben in Sizilien."
Spätestens seit der Vereinbarung aus dem letzten Jahr winkt Italien die Menschen nicht mehr unregistriert durch in den Norden und nimmt auch solche, die weiterreisen, aus anderen EU-Staaten zurück, das erkennt auch die deutsche Politik an. Für Italien heißt das: Zum ersten Mal bleiben die Menschen im Land. Die Regierung Renzi, der Morcone untersteht, möchte auch innenpolitisch etwas vorweisen können aus Europa. Deutschland soll mehr als 10.000 Menschen über die Umverteilung aufnehmen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière nannte es noch vor Monaten "nicht prioritär", dies einzulösen. Jetzt sollen 500 Flüchtlinge pro Monat aus Italien nach Deutschland kommen. Gerade als die deutsche Journalistendelegation auf Einladung der europäischen Kommission in Italien ist, startet der erste Flieger. Morcones Begeisterung hält sich in Grenzen.
"Die deutschen Freunde haben gestern 200 aufgenommen. 200."
Trotzdem aber gilt der Unmut nicht in erster Linie Deutschland, dem Land, das man als wichtigen Verbündeten in Flüchtlingsfragen ansieht. Der Ärger des Präfekten Morcone gilt den Staaten vor allem in Osteuropa, die sich der Aufnahme weitgehend verweigern. Und den zurückhaltenden Vorschlägen der slowakischen Ratspräsidentschaft, die aufnahmeunwilligen Staaten Spielraum geben möchte.
"Wir hoffen sehr auf Deutschland. Das ist die Wahrheit. Weil Deutschland ein großes Gewicht hat in jenem Teil Europas."
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