Ressentiments

Die vielen Gesichter des Antisemitismus

Proteste gegen Antisemitismus in Brüssel (Januar 2014)
Proteste gegen Antisemitismus in Brüssel © picture alliance / dpa / Belga Photo / Laurie Dieffembacq
Von Klaus Hödl · 04.06.2014
Antisemitismus ist im heutigen Europa nur in spezifischen Milieus salonfähig, meint der Historiker Klaus Hödl. Gleichzeitig diene er immer häufiger als Vorwurf, den man gegen missliebige Gegner vorbringt.
Antisemitismus geht im heutigen Europa vornehmlich von muslimischen Einwanderern aus - zumindest in seiner manifesten und gewalttätigen Form. Der Judenhass ist in Teilen dieses Milieus tief verankert ist. Und die antijüdischen Übergriffe nehmen zu. Aber kommt darin auch eine allgemeine Entwicklung zum Ausdruck? Wie steht es um den Antisemitismus in Deutschland und in anderen Ländern?
Es kann wohl nicht geleugnet werden, dass es vielfältige Formen von Ressentiments, zuweilen sogar eine ausgeprägte Feindseligkeit gegen bestimmte gesellschaftliche Minderheiten und Randgruppen gibt.
Dazu gehören vor allem arabische, türkische und afrikanische Zuwanderer, aber noch mehr die verarmten Massen osteuropäischer Roma, die als Bettler und Straßenmusikanten das west- und zentraleuropäische Stadtbild prägen. Häufig werden sie vertrieben, gedemütigt und ausgegrenzt. Im Vergleich zu dieser tagtäglichen Xenophobie scheint Antisemitismus ein geringeres Problem zu sein.
Die Feindlichkeit gegen die Fremden und das Fremde paart sich mit der Aversion gegen Menschen, die erkennbar einen anderen Lebensstil pflegen und drückt schließlich tiefsitzendes Unbehagen gegen gesellschaftliche Modernisierung aus. Dass diese Einstellung derzeit virulenter und verbreiteter ist als Antisemitismus, kann exemplarisch am Buch "Deutschland von Sinnen" von Akif Pirincci abgelesen werden.
Aggressiver Rundumschlag gegen emanzipatorische Initiativen
Den Autor regt die Toleranz gegenüber Homosexuellen und Zuwanderern auf und ihn empört das Gender Mainstreaming, das Bemühen um die Gleichstellung der Frau. Vulgär und beleidigend steigert er sich in einen aggressiven Rundumschlag gegen emanzipatorische Initiativen. Nur eines ist er ganz sicher nicht: antisemitisch. Der Name verrät es und seine Provokation spielt damit, dass er ja selbst zu einer erkennbaren Minderheit gehört.
Anders als Xenophobie scheint Antisemitismus im heutigen Europa nur in spezifischen Milieus salonfähig zu sein. Das heißt nicht, dass außerhalb dieser antisemitische Einstellungen rapide abnehmen oder gar ganz verschwinden. Aber sie sind tabuisiert und werden höchstens codiert öffentlich artikuliert. Stattdessen dient Antisemitismus immer öfters als Vorwurf, den man gegen einen missliebigen Gegner vorbringt. Das sieht man exemplarisch an der Ukraine.
Historisch gesehen gibt es kaum einen Landstrich, in dem Juden so viel Leid widerfuhr, wie auf dem Gebiet der Ukraine. Dazu trugen sowohl Pogrome in den vergangenen Jahrhunderten wie auch Judenmassaker während der Nazizeit bei, die teilweise unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung durchgeführt wurden.
Diskreditierung des Gegners
Es wäre nicht verwunderlich, wenn angesichts des derzeitigen Zerfalls der staatlichen Ordnung und eines verbreiteten Gefühls von Pessimismus und Zukunftsangst in der Gesellschaft ein latent schlummernder Judenhass eruptiv an die Oberfläche gelänge.
Tatsächlich wird berichtet, dass antisemitische Vorfälle im Land zu nehmen. Juden sollen sogar aufgefordert worden sein, sich und ihren Besitz registrieren zu lassen. Doch dafür haben genauere Nachforschungen keine Belege gefunden.
Vielmehr wurden solche Gerüchte entweder von regierungstreuer Seite oder aus dem Umfeld der russlandtreuen Separatisten lanciert, um die jeweiligen Gegenseite vor der Weltöffentlichkeit bloßzustellen. Antisemitismus dient somit zur Diskreditierung des Gegners.
In einer Kolumne der israelischen Tageszeitung "Haaretz" heißt es in diesem Zusammenhang, dass Juden in ihrer Geschichte noch niemals so sicher wie heute gelebt hätten. Es bleibt zu hoffen, dass es sich dabei um keine Wunschvorstellung handelt. Denn politisch instrumentalisiert werden sie wie eh und je.

Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, dessen Gründungsdirektor er von 2001 bis 2007 war, und Autor von sechs Monographien über osteuropäische Juden, Bilder des jüdischen Körpers und jüdische Geschichtsschreibung, zuletzt "Kultur und Gedächtnis", September 2012, Verlag Ferdinand Schöningh.

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