Respekt vor Aufklärern

Rezensiert von Michael Böhm · 10.06.2012
Der Germanist Manfred Geier versammelt in "Aufklärung" Geschichten von Menschen und Büchern zum Nachdenken und Mitmachen im Geist dieser geistesgeschichtlichen Epoche. Und schildert die Rückschläge, die das emanzipatorische Großexperiment immer wieder erlitt.
"Über Tote soll man nur Gutes reden", besagt ein Sprichwort. Und noch heute respektiert man dies bei Trauerreden auf Verstorbene, um die Gefühle von Nachkommen nicht zu verletzen. Anders verhält es sich mit einem Erbe: Bevor man es antritt, hinterfragt und analysiert man gemeinhin alle seine Aspekte – ohne damit gegen die guten Sitten zu verstoßen.

Bemüht man diesen Vergleich, hat Manfred Geier entgegen seiner Absicht wohl eher einen Nekrolog geschrieben, denn sich bewusst zu einem lebendigen Vermächtnis bekannt. Das wiegt schwer, denn der Gegenstand, dem er sich in seinem Buch auf über 400 Seiten widmet, ist nichts Geringeres als das europäische Projekt der Aufklärung: abgehandelt in sieben biografischen Porträts ihrer Vertreter, angereichert mit den wichtigsten ihrer Ideen.

Dabei verwundert weniger, dass Geier dieser geistesgeschichtlichen Epoche auch Personen zuordnet, deren Namen gemeinhin nicht zuerst mit ihr assoziiert werden oder weniger geläufig sind: Etwa Wilhelm von Humboldt, der am Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen eine Bildungsreform durchsetzte, um im aufklärerischen Sinne zu einer Erziehung zur Mündigkeit zu gelangen; oder Olymp de Gouges, der Schöpferin der "Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin", die für die rechtliche Gleichstellung der Frauen kämpfte und während der französischen Revolution deshalb auf dem Schafott endete. Im Gegenteil: "Aufklärung", oder wie Immanuel Kant sagte, sich seines Verstandes zu bedienen, Mut dazu zu haben – das ist wie der Autor zu Recht bemerkt, kein abgeschlossener, sondern ein bis heute andauernder Prozess:

"'Aufklärung' ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen "dunkle" Vorstellungen, die alles wie in einem Nebel oder einem Schattenreich verschwinden lassen. Sie richtet sich gegen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit und Phantasterei. Sie ist zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes."

Was hingegen in Geiers gelehrten Ausführungen irritiert, ist, dass er die janusköpfige Dimension des aufklärerischen Projektes kaum thematisiert: So sucht etwa der Leser im Essay über John Locke vergebens Hinweise darauf, dass es nicht nur moralische Eingebungen, sondern auch ökonomische Interessen waren, die den englischen Philosophen im 17. Jahrhundert, als Vertreter einer durch Seehandel reich gewordenen Bürgerschicht zu seiner "Zweiten Abhandlung über die Regierung" inspirierten: Dass Vernunft bei Locke vor allem bedeutet, Kapital zu akkumulieren; dass die postulierte Freiheit und Gleichheit aller Menschen, auch immer den freien Markt meint, samt seiner Verkäufer und Kunden – und dass er religiöse Toleranz auch deshalb forderte, weil die Angehörigen der verschiedenen Kirchen und Sekten auch wirtschaftlich konkurrieren sollten.

Gewiss, den frühen Aufklärern vorzuwerfen, dem latenten religiösen Bürgerkrieg hätten sie nur die Grundprinzipien des Kapitalismus entgegen gestellt, wäre anmaßend. Doch wer "finanzpolitische Krisen" moniert, und dass "Bildung" nur noch "eine Ware" sei, "die es marktgerecht herzustellen und zu verwerten" gelte, der sollte von den ideengeschichtlichen Wurzeln dieser Phänomene nicht schweigen.

Das gilt auch für den Krieg der USA gegen den Irak, dem Geier im Beitrag über Kant die Friedensbemühungen des "alten Europa" gegenüberstellt. Sicherlich weckt die US-Politik eher Assoziationen zum pessimistischen Menschenbild des Aufklärers Thomas Hobbes, der von einem permanenten Krieg aller gegen alle ausging. Geier lässt diesbezüglich den amerikanischen Politikberater Robert Kagan zu Wort kommen:

"Die Vereinigten Staaten von Amerika blieben realistisch der Geschichte verhaftet und übten militärische Macht aus in einer anarchischen Hobbes'schen Welt, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist."

Aber folgte die US-Politik nicht auch der Logik jener optimistischen Idee eines "ewigen Friedens", die Kant in seiner gleichnamigen Schrift von 1795 entfaltete? Denn der Königsberger Philosoph entwickelte darin die Vorstellung eines demokratischen "Weltbürgerrechtes", das künftig Kriege verhindern solle. Und in seiner wenig später erschienenen "Rechtslehre" schrieb er, derjenige, der nicht nach ewigem Frieden strebe, sei ein ungerechter Feind.

Dass diese Idee den Grundsatz untergrub, wonach sich kriegsführende Parteien als Feinde anzusehen hätten und nicht als Verbrecher damit ein Friedensschluss möglich sei; dass sich hierdurch das Völkerrecht moralisierte und dazu einlud, den früher geachteten Kriegsgegner zu verteufeln; und dass später auch Zivilisten in militärischen Konflikten kämpften, dass sie immer wieder aufflammten und zuweilen bis heute andauern, weil man sie wie Religionskriege wegen widerstreitender Moralvorstellungen führt – all das böte Anlass, zu einer lebendigen, aufklärerischen Diskussion.

Doch der Autor klagt nur, die USA seien nach dem 11. September 2001 gegen die "Achse des Bösen" zu Felde gezogen; mahnt an, sie mögen wieder Schrittmacher sein, um das Völkerrecht zu einem "weltbürgerlichen Zustand" zu entwickeln – und scheint zu vergessen, dass ihre Truppen in Afghanistan als "dreckige Ungläubige" beschimpft bis heute Ziele terroristischer Angriffe sind, weil sie der Bevölkerung westliche "Freiheit" und "Demokratie" bringen sollen.

So ist Geiers Text zwar über weite Strecken eine Eloge auf die in dem Band versammelten Aufklärer, aber ein sehr merkwürdiges, ja belangloses Buch über die Aufklärung: Weil es anders, als viele ihrer historischen Vertreter zu großen Respekt zu haben scheint vor überlieferten Ideen; weil es sich zu oft darauf beschränkt, sie lehrreich zu referieren, statt sie kritisch zu reflektieren – und weil es mit Blick auf Menschenrechte und Demokratie vor allem deren Gedächtnis feiert, statt auch danach zu fragen, was darüber hinaus ihr Vermächtnis ist.

Manfred Geier: Aufklärung – Das europäische Projekt
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012

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Mentalitätsgeschichte der Moderne - Manfred Geier: "Aufklärung. Das europäische Projekt", Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 415 Seiten (DKultur, Kritik)
Philosophie des lohnenden Versuchs - Manfred Geier: "Aufklärung. Das europäische Projekt", Rowohlt Verlag (DLF, Andruck)
Buchcover: "Aufklärung" von Manfred Geier
Buchcover: "Aufklärung" von Manfred Geier© Rowohlt Verlag
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