Respekt und Verständnis entwickeln

Von Brigitte Lehnhoff · 14.01.2012
Mit Schülern eine Kirche oder Moschee zu besuchen, ist sicherlich auch vor atheistischen Familien gut zu vertreten. Eine andere Sache ist aber der Platz von Religionen im Schulalltag. Wie kann der jenseits des etablierten Religionsunterricht aussehen?
Große Pause in der Albert-Schweitzer-Schule im Hannoverschen Stadtteil Linden. Auf dem Hof toben Kinder aus 38 verschiedenen Herkunftsländern. Mehr als die Hälfte der 320 Jungen und Mädchen lebt in schwierigen sozialen Verhältnissen. Beatrix Albrecht, Rektorin der staatlichen Ganztagsgrundschule, plant deshalb mit Studierenden der Evangelischen Fachhochschule Hannover einen Raum der Stille:

"Es soll ein Raum sein, ein Ort sein, in den Kinder sich zurückziehen können, wo es nicht darum geht, jetzt eine Religionsrichtung zu dokumentieren oder zu präferieren, sondern es geht wirklich darum, diesen Raum so zu gestalten, dass Kinder zur Ruhe kommen, dass sie zu sich selber finden können, dass sie vielleicht auch angeleitet werden, spirituelle Erfahrungen zu machen, dass sie jemanden haben, mit dem sie sprechen können, und dass dort vielleicht Symbole, Zeichen sind, die Kindern Kraft geben. Wir sind also dabei zu überlegen: was müssen wir an Angeboten machen, damit dieser Raum auch gut genutzt werden kann von den Kindern."

Eine Ganztagsschule, in der Kinder viel Lebenszeit zubringen, habe nicht nur die Aufgabe, Lernstoff zu vermitteln, sagt Beatrix Albrecht. Die Schule sei verantwortlich dafür, gerade benachteiligten Kindern auch Lebenshilfe zu geben. Religiöse Praxis könne solch eine Lebenshilfe sein.

Beatrix Albrecht: "Ich denke schon, dass es wichtig ist, religiöse Erfahrungen zu machen, man kann sich auch später dagegen entscheiden, wenn man das möchte, aber gar nicht damit konfrontiert zu werden, finde ich sehr schade, weil es doch auch viele Menschen gibt, die für sich behaupten, dass gerade diese Dinge ihnen im Leben auch Kraft gegeben haben in schwierigen Situationen und unsere Kinder werden damit überhaupt nicht richtig konfrontiert."

Religiöse Praxis in der Schule? Doris Zimmer etwa, in Hannover Berufsschullehrerin für das Fach Werte und Normen, sieht das sehr kritisch:

"Das wäre mir zu viel Religion in der Schule, also zu viel Religionsausübung in der Schule. Das eine ist Bildung und das andere ist religiöse Institution."
Mit anderen Worten: Praktische Religionsausübung ist Sache der Religionsgemeinschaften, wissensvermittelnder Religionsunterricht ist Sache der Schule. Doch auch der herkömmliche konfessionelle Religionsunterricht gerät zunehmend unter Druck, weil immer mehr Schüler keiner Religion angehören.

Manfred Spieß, Religionswissenschaftler und -pädagoge an der Universität Bremen, bestätigt zwar diesen Trend. Er gibt jedoch zu bedenken, dass ein konfessionsloser Schüler nicht automatisch unreligiös sei. Seine Erfahrungen schilderte er kürzlich auf einer Tagung über den Umgang mit religiöser Pluralität in der Schule, zu der die Evangelische Akademie Loccum eingeladen hatte:

"Die Pluralisierung der Lebensentwürfe von Jugendlichen zeigt, dass sie mit Religion viel selbstständiger umgehen, sie lassen sich Religion nicht aufoktroyieren, sondern suchen sich zum Teil auch ihre Religion. Manche geben das wieder mit dem etwas schwierigen Wort Patchwork-Religiosität, damit ist gemeint, dass Jugendliche selbst ihre Wege suchen und sie greifen sich auf, was sie hier und da wichtig finden und vor allen Dingen greifen sie das auf, was ihnen im Leben am besten weiterhilft. Der falsche Weg wäre, sie in eine extra Kammer zu setzen und zu sagen, jetzt kriegt ihr Unterricht für Religionslose und die anderen kriegen Unterricht für Evangelisch, Katholisch und Islamisch getrennt. Das dient nicht dem Ganzen der Schule, sondern hier muss man Wege finden, um das in Zukunft möglichst mehr gemeinsam zu machen."

Eine solche Haltung ist ganz im Sinne der Grünen in Niedersachsen, die sich kürzlich auf ihrem Landesparteitag für das Pflichtfach "Religionen und Weltanschauungen" aussprachen. Konfessionsgebundenen Unterricht soll es demnach weiterhin geben, jedoch zusätzlich und auf freiwilliger Basis. Dagegen sträuben sich die christlichen Kirchen. Unter anderem mit dem Argument, religiöse Identität und interreligiöse Kompetenz könne am besten entwickeln, wer seine eigene Religion gut kenne, sich dort beheimatet fühle. Doch es geht offenbar auch anders. Im Stadtstaat Hamburg gibt es von der ersten bis zur sechsten Klasse den sogenannten "Religionsunterricht für alle".

Gymnasium Kirchdorf/Wilhelmsburg, Religionsunterricht in der 6b. Etwa Dreiviertel der Schüler sind Muslime.

"Ich schreib jetzt mal 'ne Frage an und ihr überlegt mal ganz kurz, was ihr darauf als wichtige Antwort nennen würdet."

Lehrerin Gabriele Schönheit will von den zwölfjährigen Jungen und Mädchen wissen, warum sie sich hier und heute mit Jesus beschäftigen.

Schüler: "Weil hier die meisten aus ‘m Islam kommen. – Weil Jesus auch im Koran steht, nur mit einem anderen Namen. – Aha, das ist eine interessante Antwort. – Also zum Beispiel die Muslime oder die Juden, die müssen ja auch lernen, eine andere Religion zu respektieren, weil wir in Deutschland leben und da sind die meisten ja Christen und da müssen wir eine andere Religion respektieren."

Dialog zwischen den Religionen von Anfang an, Identitätsfindung durch Begegnung, so könnte man das Hamburger Prinzip auf den Punkt bringen. Zwar läuft der Religionsunterricht unter evangelischer Flagge, ist aber in einem interreligiösen Gesprächskreis abgestimmt mit den vielen Religionsgemeinschaften in der Hansestadt. Und das wissen die Eltern zu schätzen, sagt Gabriele Schönheit:

""Die Eltern merken, dass es nicht darum geht, dass wir die Kinder irgendwie beeinflussen wollen, sondern im Gegenteil, bei uns ist es so, dass die Religionen, die konstruktiv gelehrt werden, Respekt verdienen im Sinne eines Pluralismus, in dem jeder seine Religion für die wichtige hält, aber die Religion des Anderen achtet."

Das Hamburger Modell ist geprägt durch die Realität einer multikulturellen und multireligiösen Stadtgesellschaft. Bundesweit stößt es auf wachsendes Interesse. Denn Religion aus der Schule herauszuhalten, ist offenbar keine ernsthafte Option. Eine plausible Erklärung liefert der 19-jährige Abiturient Burhan. Obwohl bekennender Atheist, hat er das Oberstufenprofil Religion gewählt:

"Der Religionsunterricht hilft vielleicht, andere besser zu verstehen, das heißt, Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen, die einem erst fremd sind und wenn man sich dann mit der Religion auseinandersetzt, einem wichtigen Teil ihrer Kultur, hilft es vielleicht, diesen Menschen besser zu verstehen."

Und noch etwas spreche für gemeinsamen Religionsunterricht, sagt Lehrerin Gabriele Schönheit. In pluralistischen Gesellschaften sei es nötiger denn je, friedlich um Wertmaßstäbe zu ringen, etwa beim Umgang mit wissenschaftlichen Entwicklungen wie der Gentechnik:

"Und wenn wir dann uns fragen, welche Positionen beziehen hierzu das Christentum und der Islam, stellen wir fest, klare Antworten darauf gibt es nicht, aber es gibt viele Kategorien und Argumentationsweisen, die Orientierung dahingehend geben, was darf der Mensch, was soll der Mensch zum Wohle des Menschen und der Gesellschaft."
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