Reportage mit Mehrwert

Karl Ove Knausgard nähert sich literarisch einer Gehirn-OP

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard, aufgenommen am 28.4.2014 in Barcelona
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard: "Sanft pulsiert das Gehirn." © picture-alliance / dpa/ Alejandro Garcia
Von Volkart Wildermuth · 14.01.2016
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard ist nach Tirana gereist, um den englischen Hirnchirurgen Henry Marsh operieren zu sehen. Die "New York Times" druckte seinen Text unter dem Titel "Die schreckliche Schönheit der Hirnchirurgie", wir rezensieren ihn.
Karl Ove Knausgard macht es seinen Lesern nicht einfach. Bevor es in den Operationsaal geht, berichtet er erst einmal, wie er in Tirana landet und dass ein rothaariger Amerikaner mit Strohhut neben ihm im Flieger gesessen hat.
Der taucht später nie wieder auf. Wäre das mein Bericht, ich bin sicher, die Redakteurin hätte die Sätze einfach gestrichen. Kein dramatischer Einstieg, keine herzergreifende Lebensgeschichte, Alltag – typisch Knausgard. Der Leser muss sich einlassen, sich Zeit nehmen für diesen persönlichen Blick in eine fremde Welt.
Karl Ove Knausgard ist nach Tirana gekommen, um den englischen Hirnchirurgen Henry Marsh operieren zu sehen. Ihn faszinieren die Gegensätze, die feine Komplexität des Gehirns und die vergleichsweise derben Sägen, Messer und Bohrer der Chirurgen.
Der Ort der Handlung, Tirana, führt gleich zu einer Distanzierung. Der Norweger spricht die Sprache nicht, kann nur von außen auf die Stadt und ihre Menschen blicken. Damit konzentriert sich der Text auf den Autor, sein Erleben, seine Eindrücke. Ein Reporter sollte hinter seiner Geschichte verschwinden, hier hält gerade der Erzähler die Reportage zusammen. Also raus aus dem Flugzeug und in den Wagen. Die erste Begegnung mit den Ärzten, das gemeinsame Abendessen, ein Fest der Farben. Das blassgrüne Olivenöl, der blauschwarze Oktopus mit seinem blendend weißen Fleisch. In der Nacht ein Albtraum. Der Text plätschert vor sich hin, ganz nett, mehr nicht.
"Es gleicht einem kleinen Tier in einer Grotte"
Am Vormittag dann betritt Knausgard den Operationssaal. Ein Schock, er erblickt zum ersten Mal ein Gehirn:
"Lagen um Lagen von Gaze, vollständig mit Blut gesättigt, bilden einen Trichter hinunter ins Innere des Schädels. Darin pulsiert sanft das Gehirn. Es gleicht einem kleinen Tier in einer Grotte. Oder dem Fleisch einer offenen Muschel."

Unter dem Operationsmikroskop erscheint das Gehirn wie eine Landschaft, weite Ebenen, mit rot mäandernden Flüssen, mit Tälern und Hügeln und einem Gletscher, dem Tumor, um den es geht. Der Anblick ist so schön, dass Karl Ove Knausgard die Tränen kommen. Auch weil er kurz vergessen hat, dass dieses Gehirn zu einem Menschen, einer Persönlichkeit gehört. Später wird der Schriftsteller zwei Patienten vorstellen, Ilmi Hasanaj und Gjinovefa Merxira, aber sie bleiben blass, vielleicht wegen der Sprachprobleme, vielleicht aber auch, weil es hier nicht wirklich um ihr Schicksal geht, sondern um das, was es in ihm auslöst.
Die Chirurgen trennen die Kopfhaut vom Schädel.
"Teils schnitt er, teils drückte und schabte er sie von unten los, während er sie gleichzeitig von oben nach hinten wegzog, als würde er eine unreife Frucht schälen, deren Schale sich immer noch ans Fruchtfleisch klammerte."
Der Text wird von Bildern aus dem Operationssaal begleitet. Die New York Times warnt, dass sie für manche Leser zu viel sein könnten. Dabei sind die Fotos arrangiert wie mittelalterliche Heiligenbilder. Die Patienten sind statt in Roben in blaue Tücher gehüllt. Ein seltsam distanzierter Blick in eine Welt, in der es ja um das Persönlichste, das Gehirn, geht. Diese Distanz fühlt Knausgard auch in sich selbst.
"Nicht einmal war es mir in den Sinn gekommen, dass es Hasanaj war, in den sie hier schnitten."
Immer wieder schweift Knausgaard ab, berichtet von Ausstellungen und Cafés

Immer wieder regt Marsh die Hirnoberfläche mit elektrischen Strömen an. Ilmi Hasanaj ist wach berichtet, was er erlebt. Einmal zuckt sein Arm, als ob ein Puppenspieler daran gezogen hätte. Am Ende kann der Tumor entfernt werden. Immer wieder schweift Knausgaard ab, berichtet von Ausstellungen, von Cafés, von Gesprächen mit dem Fotographen. Und immer wieder kommt er zurück zum Gehirn. Marsh zeigt ihm das Zentrum für Gesichtsbewegungen.
"All die Freude, all die Trauer, all das Licht, all der Schatten, die ein Gesicht im Lauf eines Lebens füllten, sollten sich darauf zurückführen lassen?"
Dieser Widerspruch, auf der einen Seite das rohe Fleischliche und auf der anderen die Vielfalt des seelischen und geistigen Lebens, das ist es was Karl Ove Knausgaard fasziniert. Und dieser Widerspruch hält letztlich auch den ganzen Text zusammen. Nach und nach wird klar, warum er die Farben, die Klänge, selbst zufällig Eindrücke so intensiv beschreibt. Sie alle gehen auf die vielfältigen Wege zurück, mit denen Nervenzellen interagieren. Selbst der Kommunismus, dessen Relikte er betrachtet oder der Kapitalismus, dessen Geschäfte er beobachtet, sind letztlich Produkte von Gehirnen. Ein erschütternder Gedanke, erst einmal.
"Das alles sagte nichts. Es war, als wenn man einen Stein der Grundmauer betrachtet um das Geheimnis der St. Peter Basilika zu ergründen. Das alles war einfach eine Lüge, …, aber was war keine?"
Karl Ove Knausgard bewundert Henry Marsh, weil er beide Seiten ernst nimmt. Er kämpft um das Leben der Patienten und weiß, dass es keine tiefere Bedeutung wieder einmal nicht ausgereicht hat. Knausgard selbst scheint in seiner Reportage anzuschreiben gegen die Zumutungen der Neurowissenschaft, die Seele ganz auf Gehirn reduziert.
Deshalb berichtet er von den Nebensächlichkeiten genauso, wie von eindrücklichen Momenten. Nicht nur weil sie Thesen über das Gehirn illustrieren, sondern, weil er sie erleben kann. Die Freiheit, diesen Eindrücken nachzuspüren, sich radikal auf die eigene Perspektive einzulassen, ihr zu vertrauen, ist bezeichnend für Knausgards Schreiben. Sie ist der Mehrwert des Dichters für die Reportage.
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