Die Zukunft der Rentenkasse

Und in 50 Jahren ist alles vorbei?

Zwei Senioren sitzen an der Uferpromenade in Langenargen (Baden-Württemberg) auf einer Parkbank.
Senioren auf einer Bank: Wie kann die Rentenversicherung an die moderne Arbeitswelt angepasst werden? © dpa / picture alliance / Felix Kästle
Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster · 30.03.2015
"Ein prägendes Zeichen unseres lebendigen Sozialstaates" - so lobte Kanzlerin Angela Merkel kürzlich die Rentenversicherung. Mehr als 33 Milliarden Euro Rücklagen liegen zurzeit für die Renten auf der hohen Kante. Zukünftige Generationen werden davon aber wohl wenig abbekommen.
Konrad Adenauer: "Das neue Gesetz ist ein sozialer Fortschritt allerersten Ranges. Es ist von denkbar größter sozialer und wirtschaftlicher Bedeutung."
Ludwig Erhard: "Wir haben offenkundig das Gefühl für das Mögliche verloren. Und schicken uns an eine Sozialpolitik zu betreiben, die vielleicht das Gute will. Aber mit Sicherheit das Böse, die Zerstörung einer guten Ordnung schafft."
"Ich hätte da mal ne Frage, was ist eigentlich mit meiner Altersversorgung?"

Rentnerin: "Das sind meine ganzen Rentenunterlagen. Was man immer so zugeschickt kriegt. Und hier sind halt die ganzen V 410 V 800, V 510, R 240, V 100, also man muss ja ne Menge dann, R 100."
Ein Arbeitsleben. Dokumentiert und abgeheftet in einem schwarzen, leicht abgegriffenen Ordner. Für den Eintritt in den Ruhestand.

"Hier Rentenauskunft... Rentenklärung, ja... hier ist noch, falls sie noch irgendwas von den Kindern haben wollen: Heiratsurkunde, Geburtsurkunde. Alles dabei."
Die Rentnerin in spe packt den Ordner zurück in eine stabile Stofftasche. Nimmt die rote Lesebrille ab. Blickt auf den großen Flachbildschirm, der wie ein eckiger Riesenlutscher aus der velourgrauen Sitzlandschaft ragt. In zwei Spalten werden Wartenummern angezeigt. Sie hat 2014. Auf dem Bildschirm blinkt 2007.

Rentnerin: "Ich möchte heute meine Rente einreichen. Haha. Die wohlverdiente."
Seit 45 Minuten tut sich nichts. Nur am unteren Rand läuft unermüdlich ein Fließtext: "Herzlich willkommen bei der Deutschen Rentenversicherung." Knapp 53 Millionen Versicherte zahlen hier Beiträge ein, rund 20 Millionen Rentner bekommen das Geld jeden Monat überwiesen. Mehr als 260 Milliarden Euro gehen so pro Jahr hin und her. Gut ein Viertel davon zahlt der Bund als Zuschuss für beitragsunabhängige Leistungen wie zum Beispiel Erziehungszeiten oder Spätaussiedler-Renten.
"Man kann die Zukunft nicht vorhersagen“, mahnt ein neongrünes Schild an der Wand die Wartenden: "Aber man kann sich gut auf sie vorbereiten“. Die 64-Jährige schüttelt den Kopf. Seit 42 Jahren arbeitet sie als Krankengymnastin auf einer Dreiviertel-Stelle. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder hat sie nur wenige Monate ausgesetzt. Knapp 1000 Euro wird sie im Ruhestand aus der Rentenkasse bekommen.
"Dann ist das herzlich wenig. Das wird ja zukünftig noch weniger. Für unsere Kinder zum Beispiel, von Jahr zu Jahrgang wird es weniger. Es geht ja runter das Rentenniveau auf bis zu 40 Prozent, da ist die Arbeitsarmut vorprogrammiert."
Zwei Gebäude weiter eilt Reinhold Thiede über einen langen Gang, biegt links ab. Zwischen vier Straßenzügen erstreckt sich der riesige Verwaltungskomplex. Wer wissen will, wo es bei der gesetzlichen Rentenversicherung lang geht, der fragt am besten den Volkswirt mit dem Backenbart und der Lesebrille. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist er hier unterwegs. Thiede leitet die Abteilung Forschung und Entwicklung.
"Für die Kollegen, die sich nicht so gut auskennen, wir haben hier an jeder Kreuzung so einen Wegweiser. Da kann man dann immer sehen, wo man ist, wo man hin will, wo man hergehen muss, um zu einem bestimmten Ziel zu kommen."
Als Thiede hier anfing, sollte die gesetzliche Rente noch den Lebensstandard im Alter sichern, nach einem "erfüllten Erwerbsleben", wie es etwas wolkig hieß. Gemeint waren damit 45 Jahre Arbeitsjahre. Eine Zielvorgabe aus der Adenauer-Zeit, als die sogenannte umlagefinanzierte Rente eingeführt wurde. In den folgenden Jahrzehnten bröckelten die Berechnungen.
Thiede: "Das war die Zeit, als man erkannte, der Pillenknick ist tatsächlich ein Knick, die Geburtenentwicklung geht deutlich zurück. Und auch nicht wieder hoch, wie einige vorher dachten. Und gleichzeitig steigt die Lebenserwartung deutlich an, richtig deutlich an."
Niedrige Geburtenraten und steigende Lebenserwartung: Das garantiert permanente Spannung im Rentensystem. Denn das Umlageverfahren, in dem die Einnahmen sofort verfrühstückt werden, kann keine großen Reserven aufbauen. Die Beiträge der Beschäftigten finanzieren die Renten der Ruheständler.
In der kleinen Bibliothek stehen die aktuellen Veröffentlichungen. Neben einem Überblick zur Rentengeschichte. Im letzten Jahr feierte die Versicherung ihr 125jähriges Bestehen. Reichskanzler Otto von Bismarck führt das System ein, um die Arbeiter von revolutionären Umtrieben abzuhalten. Die Beitragshöhe liegt für Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei knapp zwei Prozent, jeder spart für seine persönliche Rente, ein Zuschuss kommt aus der Reichskasse. Das Renteneintrittsalter liegt damals offiziell bei 70 Jahren, das schafft kaum ein Malocher, nur Invaliden können vorher in den Ruhestand gehen. Zum Leben aber reicht das Geld nie. Das Bismarck-System vertraut auf die Kapitaldeckung, die Kraft der Verzinsung. Und ist damit hochanfällig für Währungskrisen. Zwei Weltkriege und zwei Währungsreformen zerstören schließlich seine Grundlagen. Als Folge setzt Konrad Adenauer im Nachkriegsdeutschland auf das Umlageverfahren. Nicht der Kapitalmarkt sondern die folgenden Generationen sollen von nun an die Altersversorgung sichern.
Die vier großen Stellschrauben in der Rentenpolitik
Leistungen begrenzen, Beiträge und Lebensarbeitszeit erhöhen, staatliche Zuschüsse ausweiten – das sind seitdem die vier großen Stellschrauben in der Rentenpolitik. Und an denen wurde in fast jeder Legislaturperiode gedreht. Allein die Gesetzesänderungen der letzten 25 Jahren umfassen bei der Rentenversicherung 283 eng bedruckte Seiten.
Reinhold Thiede blättert in vergilbten Zeitschriften. Sie dokumentieren den für ihn letzten großen Wendepunkt in der Renten-Politik.
"Das achte Weltwunder des Zinseszinseffektes wurde beschworen, es wurden Rendite unterstellt von Kapitalanlagen von acht Prozent in gewissen Modellen, von Wissenschaftlern, die heute noch bekannt ist und die einen guten Namen haben."
Die rot-grüne Bundesregierung setzte auf diese Prognosen. Sie sieht in der vermeintlichen Kapitalmarktentwicklung die Chance, den Beitragsanstieg der gesetzlichen Rentenversicherung langfristig zu bremsen. Private und betriebliche Vorsorge sollen zukünftig den Ruhestand mitfinanzieren. Die Kapitalmärkte für einen auskömmlichen Lebensabend sorgen. Per Gesetz begrenzt die Schröder-Regierung den zukünftigen Beitragsanstieg. Auf maximal 22 Prozent im Jahr 2030.
"Die Rentenversicherung hat damals sehr darum gekämpft, das es nicht nur bei diesem Beitragsziel allein bleibt, sondern das man auch ein Ziel einsetzt, die Leistungen dürfen dabei aber auch nicht zu niedrig werden und deswegen hat man als gleichwertiges Ziel eingeführt, das Rentenniveau darf aber nicht unter 43 Prozent sinken."
Die Riester-Rente, die freiwillige private Vorsorge mit staatlicher Unterstützung wird zum Symbol der neuen Rentenpolitik.
"Wenn man das vergleicht, mit heute, wo man wirklich sieht, was sich real erwirtschaften lässt zur Zeit am Kapitalmarkt, dann sind diese Stimmen doch sehr leise geworden."
Kümmerliche Kapitalmarktzinsen haben die Altersdividende kräftig schrumpfen lassen. Während das staatlich verordnete Rentenniveau, wie beschlossen, Schritt für Schritt absinkt. Der Rentenkasse geht es dabei zurzeit gut:
"Wir haben im Augenblick, Ende letzten Jahres, eine Rücklage gehabt von 35 Milliarden. Das ist der höchste Wert seit dem zweiten Weltkrieg."
Wie weiter mit der Rente?
Doch damit rechnen kann Thiede langfristig nicht. Auch Beitragssenkungen sind nicht drin. Die große Koalition hat das Geld anderweitig verplant: Als Anschubfinanzierung für die Mütterrente und die Rente mit 63.
"Das kostet so viel, da kann man rechnen, in drei Jahren ist die Reserve weg. So schnell geht das. Und dann werden wir, vermutlich im Jahre 2018, 2019 den Beitragssatz anheben müssen."
Thiede zuckt mit den Schultern. Die Politik entscheidet. Er rechnet. Allerdings nur bis 2030. So lautet der gesetzliche Auftrag. Denn weiter hat die Politik bis heute nicht geplant.
"Eine sehr interessante Frage, über die wir im Moment sehr intensiv nachdenken ist: Die Zeit danach ist nicht abgedeckt. Was 2031 ist, dazu steht im Gesetz gar nichts."
Martin Werding zieht die Computer-Tastatur ein wenig dichter an sich heran. Um noch ein wenig weiter in die Zukunft zu blicken. Zahlenkolonnen laufen über den Bildschirm. Ein Mausklick und die Gesellschaft altert.
"Hier sind Zahlen zum Altenquotienten, den kann man verschieden abgrenzen."
Der Altenquotient: das ist das Verhältnis der Menschen im Rentenalter zur arbeitsfähigen Bevölkerung.
"Das geht eben bis 2060. Von heute um die knapp 30 Prozent auf Werte von über 60 Prozent. Und wenn ich mal weitergucke, wenn ich bis 2100 schaue, immer auf diesem Niveau."
Martin Werding hat über den Generationenvertrag promoviert, dann über die Tragfähigkeit umlagefinanzierter Sozialversicherungen geforscht, jetzt leitet der 51-Jährige als Professor den Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr Universität Bochum. Werding ist ein Babyboomer. Er gehört zum geburtenstärksten Jahrgang der Nachkriegszeit. 1.357.304 Kinder kamen 1964 zur Welt. Sie werden 2031 in Rente gehen. Der Ökonom klickt sich durchs Menü. Startet das Programm SIM. Das steht für "social insurance model".
"Man braucht eine ganze Menge von Annahmen, die kombiniert man dann und bekommt Szenarien. Es fängt an bei der Demographie, ich kann Bevölkerungsprojektionen machen, die dann abhängen von Geburtenziffer, Lebenserwartung, Migration."
Demografie und Zukunft
Werdings virtuelle Republik. Auf Knopfdruck erhöht er die Lebenserwartung, vermindert die Geburtenrate. Oder andersherum. Zuwanderung, Arbeitsmarktentwicklung, Produktivität – alles lässt sich variieren. Und in unterschiedlichen Szenarien berechnen. "Beitragssatz - Rentenniveau 1990- 2060", heißt ein Szenario:
"Ein Nettorentenniveau von 60 Prozent, das ist also der Stand Anfang der 90er. Das geht bei den Ist-Daten ein bisschen rauf und runter. Das aber tendenziell immer weiter abwärts, und liegt 2060 unter 40 Prozent, 38 Prozent. Das ist ein harter Einschnitt bei den Rentenbeziehern."
Werding geht davon aus, dass die Geburtenrate, wie in den letzten 40 Jahren, stabil bleibt. Und gleichzeitig erheblich mehr Frauen und Zuwanderer auf den Arbeitsmarkt kommen. Zur Entspannung trägt das aber nur wenig bei.
"Aber so spätestens ab 2025 geht’s mit dem Beitragssatz nur noch bergauf von ungefähr 20 Prozent auf zuletzt so 27 Prozent."
Auch wenn Werding zusätzlich Selbständige und Beamten in die Rentenkasse einzahlen lässt, ändert das am langfristigen Trend nichts. Es bleibt bei steigenden Beiträgen. Und einem sinkenden Rentenniveau. Der demographische Faktor ist einfach zu stark. Unterm Strich sieht der Ökonom dann auch nur eine Option, um die Rentenkassen zu entlasten:
"Meine Idee wäre, man bindet im Grunde die Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung, wenn die weiter steigt, dann geht auch das Rentenalter weiter rauf, vielleicht auf 69, natürlich nicht jetzt und nicht 2030 aber 2050, danach kommen immer noch über 20 Jahre Rentenphase. Es wird ja nur ein Teil der steigenden Lebenserwartung dann gleichsam für die Zwecke geopfert. Aber, ja, jenseits dessen hört der Spielraum für weitere Reformen bald auf."
Länger arbeiten für die Rente
Franz Müntefering: "Das wird bedeuten, das ab Jahr 2012 das Renteneintrittsalter angehoben wird von 65 auf 67."
Andrea Nahles: "Wir wollen deutlich machen mit diesem Gesetzespaket, dass wir die Leistung von Menschen anerkennen, die Erziehungsleistung. Aber auch die viele, Jahrzehnte lang hart gearbeitet haben. Und deshalb sagen wir: das ist nicht geschenkt, sondern verdient."
Rentner: "Was ist denn nun mit meiner Altersversorgung, hä?"
Ein Rentner in Jeans und verschlissener Winterjacke parkt sein altes Damenrad vor dem Bahnübergang. Wirft kurz einen Blick in den Mülleimer, zieht eine Pfandflasche heraus, verstaut sie im Korb auf dem Gepäckträger. Die Schranke hebt sich. Der Rentner schiebt weiter. Zum nächsten Mülleiner. Vorbei am Restaurant "Pathos", an den herausgeputzten Bürgerhäusern in der Bonner Südstadt. "Hier lebte Goethe" informiert eine Plakette in einem Hauseingang, neben einem namenlosen Klingelschild. "Nie" steht klein darunter.

Norbert Blüm: "Wie sieht die Welt von Morgen aus, das weiß ich nicht, ich glaube, das wissen wenige."
Eigenhändig greift Bundesarbeitsminister Norbert Blüm am 21.4.1986 auf dem Marktplatz in Bonn zum Leimpinsel, um das erste Plakat einer Informations-Aktion zur Sicherheit der Renten auf eine Litfaßsäule zu kleben. Der Text des Plakates lautet:"... denn eins ist sicher: Die Rente".
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm klebt am 21.4.1986 auf dem Marktplatz in Bonn das erste Plakat einer Informations-Aktion zur Sicherheit der Renten.© dpa / picture alliance / Peter Popp
Im Wohnzimmer macht es sich Norbert Blüm auf einem Ledersofa bequem. Nimmt einen Schluck Kaffee aus seiner orangefarbenen Lieblingstasse.
Blüm: "Und deshalb bin ich auf die Reise gegangen, habe viele Leute gefragt, Zukunftsforscher, vor Ort in Betrieben, in großen Firmen, an der Börse, eine Reise im Auftrag meiner Enkel."
"Im Auftrag meiner Enkel – Norbert Blüm auf der Suche nach der Zukunft", heißt der Film, für den der Westdeutsche Rundfunk den Politiker a.D. auf die Reise geschickt hat. Opa Blüm checkt, was die Zukunft bringt. Auf jeden Fall viele Veränderungen in der Arbeitswelt, da ist sich der 80-Jährige sicher. Auch die Lebenserwartung steigt weiter. Eines aber bleibt, wie es ist:
"Die eine Generation, die in Arbeit ist, arbeitet immer für zwei mit. Nämlich für die, die nachkommen. Und die Vorgänger. Und bei diesem Verfahren wird niemand, wenn es gerecht zugeht, niemand über den Tisch gezogen. Denn die Jungen werden ja mal alt und die Alten waren mal jung. Und wenn weniger Kinder geboren werden, dann müssen die einen höheren Beitrag bezahlen."
Kaum jemand verteidigt dieses Modell so hartnäckig wie Norbert Blüm, Deutschlands dienstältester Arbeits- und Sozialminister. Vier Legislaturperioden war er im Amt. 16 Jahre lang. Immer wieder musste er über Beitragssteigerungen diskutieren. Jedes Mal versuchte er, den Blick über die Generationsgrenze zu lenken. Und die Steigerung des Sozialproduktes mit einzukalkulieren.
"Meine Eltern, die haben mal zehn Prozent zur Rentenversicherung gezahlt. Ihre Enkel, meine Kinder, zahlen auch abgerundet 20 Prozent, nicht ganz. Also zehn zu 20 Prozent. Jetzt können sie sagen: die glücklichen Großeltern und die armen Enkel. Ich will ihnen mal was sagen, meine Eltern hatten weniger Geld, als die Enkel. Wer es nicht kapiert: zehn Prozent von hundert Euro, da bleiben 90 übrig, wenn ich richtig gerechnet habe. 20 Prozent von 200 Euro, da bleiben 160 übrig. Obwohl der Beitrag sich verdoppelt hat, bleibt mehr übrig. Und ich sage nochmal, ich weiß auch, es gibt Grenzen für die Jungen."
Als Arbeits- und Sozialminister führte er deshalb einen demographischen Faktor ein, der den Rentenanstieg begrenzte. Er kürzte Witwenrenten, verordnete Frührentnern Abschläge, reduzierte die Anerkennung von Ausbildungszeiten. Auf der anderen Seite wurde erstmals die Kindererziehung als rentenrelevant anerkannt. Einen "Umbau im System", nennt Blüm das. Das Reformpaket schnürte er mit einer informellen großen Koalition. Alle, sagt er, wollten damals die Rentenversicherung demografiefester machen.
"Es ist ja nicht so, dass wir auf Händen getragen, vom Beifall umgeben, Rentenreformen gemacht haben. Natürlich war das nicht Absenkung der Rente, aber Absenkung des Rentenanstiegs, aber vertretbar. Was nach uns geschehen ist, ist nicht mehr vertretbar."
Luftlöcher und Riesterrente
Blüm ballt immer noch die Hand zur Faust, wenn er daran zurückdenkt. Die Augen hinter der ovalen Brille blitzen kampfeslustig. Die Gesichtsfarbe steigt ins rötliche. Eine Allianz aus Versicherungsunternehmen, willfährigen Politikern und Wirtschaftsprofessoren, unterstützt von vielen Medien, machten damals Stimmung gegen die gesetzliche Rentenversicherung, sagt er. Und warben für private kapitalgedeckte Vorsorgesysteme.
"Die sind ja angepriesen worden als Lebensretter. Und die, die wie ich Fragen gestellt haben, Zweifel hatten, das Lohnsystem verteidigt hatten, die sind ja zum Depp erklärt worden, für verkalkte, inzwischen hat sich herausgestellt, dass sich die ganzen Hoffnungen der Kapitaldeckung in Luft aufgelöst haben."
Blüm schüttelt den Kopf. Dass Ex-Arbeitsminister Walter Riester ebenso wie Berater Prof. Bert Rürup heute für die Versicherungsbranche arbeiten, passt für ihn ins Bild. Ihre Modelle der privaten Vorsorge haben sich bisher für die wenigstens Kunden gelohnt. Die Versicherungsbranche aber hat mit jedem Abschluss verdient.
"Das ist eigentlich der fundamentale Knackpunkt: ist der Sozialstaat an das Schicksal des Kapitals gekoppelt? Oder an die Arbeit? Die Antwort auf diese Frage entscheidet über den Charakter des Sozialstaates. Wenn er ans Kapital gekoppelt ist, dann ist alles Interesse ein Gewinninteresse. Wenn er an die Arbeit gekoppelt, dann ist alles Interesse sowohl der Rentner wie der Beitragszahler an die Entwicklung der Arbeitseinkommen gekoppelt."
Die Einführung der Riester-Rente hat das staatliche Versicherungssystem auf lange Zeit geschwächt, schimpft Blüm. Durch das Absenken und die Begrenzung der Beiträge wurden dem Umlageverfahren Mittel entzogen. Um sie für die private Vorsorge zu mobilisieren.
"Ich bin für die Zurücknahme der Riester-Rente, das heißt, die die Ansprüche erworben haben, das wäre ja Diebstahl, aber wir müssen das Geld, was in die Kassen der Allianz fließt, in die Kassen der Rentenversicherung fließen lassen, damit alle etwas davon haben. Auch diejenigen, die beispielsweise erwerbsunfähig werden, also die, die am stärksten gefährdet sind, die haben am wenigsten von der Riester-Rente. Das ist eine Sozialpolitik nach einer Art von Geisterfahrern."
Die Riester-Mittel könnten helfen, dass Rentenniveau in Zukunft zu stabilisieren, glaubt der Minister a.D. Denn an der Höhe der gesetzlichen Rente wird sich letztendlich die Überlebensfähigkeit der staatlichen Altersvorsorge entscheiden.
"Jetzt sinkt das Rentenniveau. Die Gefahr besteht, dass das Rentenniveau unter den Satz fällt, den die Sozialhilfe zahlt. Und wenn die Rente geringer ist, als die Fürsorgeleistung der Sozialhilfe, dann ist sie doch verrückt geworden, dann ist sie übergeschnappt. Warum soll jemand arbeiten und Beitrag zahlen, wenn er auch ohne arbeiten und Beitragszahlungen Geld oder sogar mehr Geld kriegt."
Rentnerin: "Er mit seinem die Rente ist sicher, das denke ich schon auch, die Aussage stimmt. Da ist nur die Höhe der Rente, zu welchem Niveau. Das wurde runtergefahren durch die rot grüne Regierung auf 40 Prozent bis 2000 irgendwann. Ich denke, die staatliche Rente wird es schon geben. Aber die wird irgendwann rauslaufen auf die Höhe der Grundsicherung. So sehe ich das. Also mein Schwiegersohn hat drei Jobs, meine Tochter hat zwei Jobs. Sie sagen, sie kriegen sowieso keine Rente mehr. Ich meine, wie viel Geld muss man heutzutage verdienen, um mal eine Rente zu bekommen, von der man auch leben kann. Der Durchschnittsverdiener wird eine Minimalrente haben.
Der Rentnerrebell
Jens Spahn: "Das Problem ist bei den 30-, 34-Jährigen, bei vielen ist schon fast so eine, naja, frustrierte Gleichgültigkeit eingetreten. Nee, für mich wird das eh nichts mehr mit der Rente. Und die ist gefährlich, weil das gerade die Akzeptanz aushöhlt. Und gerade die Rentenversicherung braucht Akzeptanz. Gerade mit den hohen Beiträgen, die zu zahlen sind."
Jens Spahn, 34 Jahre, CDU-Bundestagsabgeordneter. Vorstandsmitglied. Und Rentenrebell.
"Da ging es um außerplanmäßige Rentenerhöhungen, und ich habe damals gesagt, die halte ich für ein falsches Signal in einer älter werdenden Gesellschaft. Ich habe am Ende im deutschen Bundestag in der damaligen großen Koalition als einziger dagegen gestimmt."
Damals, 2008.
"Damals ging es halt: Rotzlöffel, junger Schnösel, manche haben Gewalt angedroht, wie ernst man das nehmen muss, ist ein anderes Thema, da geht es schon immer sehr verbal emotional zur Sache."
Im Mai 2014 hat Jens Spahn wieder über eine Rentenreform abgestimmt. Über die Mütterente, einen CDU-Vorschlag. Und die Rente ab 63, ein SPD-Anliegen. Beides zusammengeschnürt im Rentenpaket der großen Koalition
"Zum Ersten habe ich den Eindruck, dass bis weit in die Reihen der Sozialdemokraten hinein viele wirklich große Bauschmerzen bis heute haben bei der Rente mit 63. Also mit richtig viel Begeisterung haben nur wenige zugestimmt. Umso mehr frage ich mich, warum es so weit gekommen ist."
Spahn war dagegen. Und stimmte trotzdem dafür. Schweren Herzens, wie er sagt. Markus Kurth von den Grünen stimmte dagegen. Aus Überzeugung.
"Ich muss natürlich sagen, das Vertrauen, das mit Augenmaß und langfristig der Staat mit Rücklagen umgeht, ist natürlich beschädigt worden durch das Rentenpaket, das muss man sagen. Denn die Rücklage wird jetzt gnadenlos in vier, fünf Jahren verfrühstückt, um halt bestimmten Gruppen Rentenaufschläge zu geben."
Kurth sitzt wie Spahn seit 13 Jahren für die Grünen im Bundestag. Seit Kurzem ist der Sozialpolitiker rentenpolitischer Sprecher seiner Partei. Als Erstes rief er eine Rentenkommission ins Leben.
"Ich habe mir das Ziel gesetzt, eine Aufarbeitung zu machen, auch durchaus der Schritte, die unter rot-grün eingeleitet worden sind, denn nicht alles war sinnvoll, was dort als Lösungsansätze versucht wurde."
Rentenpolitische Aufräumarbeiten. Die Grünen waren es, die mit der Schröder Regierung die Riester-Rente auf den Weg brachten. Heute würde dafür kaum noch jemand aus der Partei die Hand heben.
"Ich neige schon, dass in der gegenwärtigen Form das fast als Totalausfall anzusehen, da muss man schon mal zu neuen Gedanken kommen."
Ein neues Rentenmodell
Die Gelder könnten bei zukünftigen Vertragsabschlüssen in einen staatlichen Fond fließen, das würde zumindest die Gewinninteressen und Verwaltungskosten der Versicherungswirtschaft außen vorlassen, schlägt Kurth vor. Klar aber ist, dass private und betriebliche Vorsorge auch in Zukunft eine Rolle spielen werden. Zumindest für diejenigen, die es sich leisten können. Wie lange dann gearbeitet wird, könnte am Ende jeder nach seinen Bedürfnissen entscheiden..
Kurth: "Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten und das wollen wir auch in unserer rentenpolitischen Kommission herausfinden und weiterentwickeln, gestuft in den Ruhestand zu gehen und wenn man dann kann und will und durchaus auch länger als bis 67 zu arbeiten. Die Welt ist ziemlich vielgestaltig geworden, die Arbeitswelt ist jetzt nicht mehr diejenige wie vor 30 Jahren."
Mehr Flexibilität beim Ruhestands-Eintritt. Dies ist ein Ansatz, auf denen sich mittlerweile fast alle Rentenpolitiker verständigen können. Klar ist aber auch, dass 45 Beitragsjahre nicht immer für einen finanziell entspannten Lebensabend reichen werden.
Kurth: "Darum machen ja jetzt auch alle Parteien Vorschläge einer Garantierente oder Lebensleistungsrente oder Solidarrente. Da ähneln sich eigentlich alle im Bundestag vertretenen Parteien. Alle sage, wer langjährig eingezahlt hat, muss nachher eine Rente haben, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegt. Aber damit kann man natürlich auch keine großen Sprünge machen, da braucht man sich nichts vorzumachen."
Auch bei der Deutschen Rentenversicherung rechnet Volkswirt Reinhold Thiede mit diesem Renten-Modell. Vorerst noch rein wissenschaftlich. Und unter Berücksichtigung des sogenannten Äquivalenzprinzips. Das bedeutet schlicht: Wer mehr einzahlt, muss auch mehr bekommen.
Thiede: "Und man kann sich sehr gut vorstellen, dass derjenige, der lebenslang eingezahlt hat auch mehr kriegt, als derjenige, der nicht eingezahlt hat. Dass man sagt, Grundsicherung bekommt jeder, der sie nötig hat, der ihrer Bedarf. Aber wer gleichzeitig in die RV eingezahlt hat, der bekommt ein bisschen mehr Grundsicherung."
Stütze plus Beitragszahler-Bonus. Ein ganz neues Renten-Modell. Für die Zukunft. Mit welcher Rendite die heutigen Einzahler später einmal rechnen können, auch das haben Thiede und seine Kollegen kalkuliert:
"Und wir kommen bei den Menschen, die vielleicht in 20, 30 Jahren in Rente gehen, soweit man das jetzt in etwa abschätzen kann, auf Renditen, so um die drei Prozent. Das sind jetzt keine total gewinnträchtigen Kapitalanlagen, aber ich glaube, das ist eine Rendite, die sich sehen lassen kann im Vergleich zu dem, was man sonst so in der Altersvorsorge in der Privaten bekommt."
Natürlich sind diese Renten-Berechnungen ohne Gewähr. Eine Garantie aber gibt es bei der gesetzlichen Altersvorsorge, betont der Volkswirt: Laufende Renten dürfen nicht sinken, die individuellen Anwartschaften sind eigentumsgeschützt. Dass heißt, sie dürfen nicht vom Staat angetastet werden. Ganz anders etwa als bei einer Grundrente, wo letztendlich der Staat über die Höhe entscheidet. Bleibt unterm Strich ein niedriges Rentenniveau – mit dem Ruheständler aber sicher rechnen können.
Im Beratungszentrum der Rentenversicherung greift die angehende Ruheständlerin zur Stofftasche. Morgen muss sie wieder zur Arbeit
Rentnerin: "Die jungen Kollegen in unserem Bereich, die sind aktuell gerade in eine Tochtergesellschaft übergeleitet worden, wo sie natürlich deutlich weniger verdienen. Und natürlich durch einen geringeren Verdienst später auch niedrigere Rentenbezüge haben werden."
In Zukunft wird es für mehr weniger geben. So gesehen hat sie noch einmal Glück gehabt. Ab 1. August ist sie Rentnerin. Und will dann erst einmal in den Urlaub fahren. Wenn alles klappt.
"Und ob sich das wirklich so erfüllen lässt, wie geplant, ist noch nicht sicher. Also geplant ist, dass man dann etwas länger Urlaub machen kann, im Süden."
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