"Religiosität ist ja nicht das Problem"

Moderation: Joachim Scholl · 30.04.2012
Immer öfter hören wir von jungen Deutschen, die sich zu radikalen Muslimen gewandelt haben. Wir müssten uns diesem Problem stellen, fordert der "taz"-Journalist Wolf Schmidt. Es gehe sehr schnell, dass junge Leute, von zu Hause abhauen und nach Pakistan gehen, um dort zu kämpfen.
Joachim Scholl: Es hätte Hunderten von Menschen das Leben kosten können, wenn im Jahr 2007 dieser Anschlag geglückt wäre: Zwölf Fässer mit Wasserstoffperoxid stellte die Polizei sicher, verhaftete in einer kleinen deutschen Ortschaft drei Männer, die daraus Bomben bauen wollten. Diese sogenannte Sauerlandgruppe, wie man sie bald nannte, wurde zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die geplante Tat machte Schlagzeilen, die Tatsache jedoch, dass es sich bei den Tätern um Deutsche handelte, die sich als heilige islamische Gotteskrieger begriffen, hat bislang keine größere Diskussion und Reaktion ausgelöst.

Ein Fehler, wie Wolf Schmidt meint. Er ist ein Kollege, arbeitet für die Berliner "taz" und hat jetzt dieses Buch geschrieben: "Jung, deutsch, Taliban". Wolf Schmidt ist jetzt bei uns, guten Tag!

Wolf Schmidt: Hallo!

Scholl: In der Öffentlichkeit, Herr Schmidt, hört man nur sporadisch von diesen jungen deutschen Islamisten. Sie haben mal gezählt: Sind mehr, als man denkt, oder?

Schmidt: Ja, also, es ist die Frage, was man so genau zählt. Also, momentan machen ja die sogenannten Salafisten, sorgen für Schlagzeilen und da sind eigentlich am Ende nur wenige Tausend, und von denen wiederum ist nur ein Bruchteil, also wenige Hundert tatsächlich, befürwortet Gewalt oder ist gar bereit, in den Dschihad zu ziehen. Also, es ist eine kleine Splittergruppe, allerdings eben mal keine ungefährliche.

Scholl: Sie nennen diese deutschen Jungtalibane die verstörendste Jugendbewegung, Superlativ. Warum, habe ich mich gefragt, verstörendste Jugendbewegung? Weil es vielleicht, ja, noch weniger verständlich ist als Neonazijugendliche? Das verstört uns ja auch.

Schmidt: Natürlich ist das auch sehr verstörend und auch sehr beunruhigend wie natürlich auch die Zwickauer Zelle zeigt, dass die Gefahr von rechts nicht kleiner ist, im Gegenteil. Allerdings eben aus Sicht der Eltern, also auch aus Sicht von Eltern, die eben Urdeutsche sind, wenn ihr Kind auf einmal sich radikal verändert und in so eine islamistische oder gar militant-islamistische Szene sich reinbewegt, ist es natürlich noch verstörender, weil sie damit gar nichts anfangen können, weil sie auch nicht einschätzen können, was das eigentlich für eine Gruppe ist und ob das jetzt wirklich gefährlich ist oder ob das erst mal nur ultrafromm ist, und sozusagen das Verständnis oder überhaupt eine Ahnung, was da passiert, das haben eben diese Eltern überhaupt nicht.

Scholl: Wer sind diese jungen Menschen, aus welchen Milieus kommen sie? Gibt es da Gemeinsamkeiten?

Schmidt: Man kann eigentlich, und das macht die Sache auch nicht leichter, nicht irgendwie das eine Profil eines islamistisch-terroristischen Täters irgendwie aufstellen. Aber wenn man sich die jungen Leute anschaut, die eben in diese Szene reingeraten oder tatsächlich auch ausreisen nach Pakistan, um dort zu kämpfen, dann merkt man zumindest, dass es da wiederkehrende Muster gibt.

Also, ganz viele von diesen jungen Leuten hatten sehr gebrochene Biografien oder Jugendjahre. Also, der Vater ist gestorben, Drogen, Kriminalität, zum Teil schon in Haft gewesen oder auch andere Dinge, die passiert sind, Scheitern in der Schule et cetera. Und so, das beobachtet man ja immer wieder, nicht immer, aber häufig.

Und das als Ausgangspunkt, um dann in eine Gruppe reinzugeraten, die erst mal Halt, Orientierung, einfache Antworten - richtig, falsch, gut, böse - liefert, und das ist sozusagen ein möglicher Startpunkt, eben diese Brüche, diese extremen.

Scholl: Es ist ja aber schon wirklich ein kompletter Bruch mit dem herkömmlichen Leben. Also, eine strikte Religiosität, die plötzlich einsetzt, eine völlige Trennung von allen Gewohnheiten, man fährt nach Pakistan, in unwirtlichsten Gegenden wird man dann zum Terroristen ausgebildet.

So mit jugendlicher Guerilla-Romantik kann das eigentlich nichts mehr zu tun haben! Weiß man denn wirklich was über die Beweggründe von einzelnen solcher jungen Talibanen, warum das wirklich dann ja in so ein Extrem führt?

Schmidt: Also, man muss vielleicht auch ein bisschen unterscheiden zwischen ja auch älteren Kadern, die da in solchen Gruppen das Wort führen und auch durch und durch terrorisiert sind, und denen, die vielleicht mit 18, 19, 20 tatsächlich zum Teil auch in so eine Szene reingeraten oder reinschlittern und zum Teil auch mit einer unglaublichen Naivität da reingeraten.

Also, wenige Monate nachdem sie konvertiert sind, sind sie in diesen radikalen Gruppen drin und dann verspricht ihnen vielleicht auch jemand einfach mal, wenn wir "unseren Glauben richtig leben wollen", dann müssen wir in ein islamisches Land, dann müssen wir nach Pakistan und ... Ich glaube, manche von denen wissen gar nicht, was da auf sie zukommt, dass sie dann auf einmal in einem Krieg landen, der sie überhaupt nichts angeht. Also, zumindest hatte ich den Eindruck bei den 20-, 21-Jährigen, mit deren Eltern ich zum Teil dann gesprochen habe, die dann auch dort tatsächlich gestorben sind.

Scholl: Welche Szenen und Zirkel haben sich in Deutschland hier gebildet? Gibt es solche Zirkel auch? Man hört ja auch immer, dass im Internet da unglaublich viel sich tut, dass hier dort richtige Foren sind für solche, ja, jungen Islamisten.

Schmidt: Ja, das Internet hat natürlich eine entscheidende Rolle gespielt in den letzten Jahren. Also, jetzt nicht irgendwie direkt vielleicht als Rekrutierung für einen militanten Dschihad oder dergleichen, sondern erst mal, um Leute überhaupt dann an diese Ideologie irgendwie heranzuführen. Also, vor fünf, sechs Jahren ist quasi die Propaganda auch erst deutsch geworden und mittlerweile hat man eine ungeheuerliche Flut an Theorietraktaten an Videos, die mit deutschen Untertiteln versehen sind oder direkt auf Deutsch gemacht werden, von jungen Männern, die sich mittlerweile solchen Gruppen angeschlossen haben und im Monatstakt dann Propagandavideos schicken, schließt euch uns an oder werdet selber tätig in euren Ländern. Und das ist ja quasi dann ein Aufruf, auch hier Anschläge zu begehen.

Scholl: "Jung, deutsch, Taliban", Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Auto Wolf Schmidt. Er hat ein Buch über deutsche radikale Islamisten geschrieben. Wie haben die deutschen Behörden bislang auf diese, ja, innerdeutsche Gefahr, könnte man ja sagen, reagiert? Es gab ja durchaus etliche Verhaftungen.

Schmidt: Es ist schon viel passiert, also, seit 9/11 ... Ja, es wurden Gesetze verschärft, die sozusagen, diese Gesetze damals schon unter Schily, die verschärft wurden, oder auch das gemeinsame Terror-Abwehr-Zentrum, das eingerichtet wurde in Berlin-Treptow. Da ist viel passiert auf Seite der Sicherheitsbehörden, man hat da natürlich als Thema erkannt und auch die Gesetze und Befugnisse erweitert. Allerdings hat man an anderer Stelle in meinen Augen geschlafen. Im Vergleich zu anderen Ländern wie England oder den Niederlanden, man hat quasi den Bereich der Prävention, also mal vorab ranzugehen an ein Problem, bevor es zu spät ist und man diese jungen Leute nicht mehr erreicht. Und da ist Deutschland, hinkt Deutschland immer noch hinterher.

Scholl: Was machen denn andere Länder besser, in England oder in den Niederlanden?

Schmidt: Also, in England gibt es so eine Einrichtung im Norden Londons, da habe ich auch den Leiter getroffen, das ist selber ein ehemaliger, ein Aussteiger aus dieser Szene. Und der hat eben so ein Jugendzentrum gegründet, wo er sagt, er geht ran, er sagt, ich nehme die Sorgen, Nöte dieser jungen Menschen ernst, ich nehme es auch ernst, dass sie sagen, das, was in Palästina passiert, das ist nicht in Ordnung, aber ich will verhindern, dass die Radikalen quasi ihre Religion missbrauchen und den Islam highjacken in dem Sinne.

So, und solche Beratungsstellen oder Anlaufstellen, das wäre schön, wenn es das auch in Deutschland geben würde. Und bisher gibt es das eben nur in Ansätzen.

Scholl: So, wie Sie die unterschiedlichen Biografien einzelner Jungtalibane skizzieren in Ihrem Buch, Herr Schmidt, da ist das einzig Verbindende, dass es eben kein einheitliches Profil gibt. Wie lässt sich denn aber dann so eine Entwicklung erkennen, also, wo kann hier Prävention ansetzen? Gibt es also hier Mittel und Wege, die Sie vorschlagen würden?

Schmidt: Es gibt ja zum Teil auch schon zum Beispiel in Berlin Beratungen, erste Beratungsstellen für Eltern und Väter und Mütter, die sich Sorgen machen um ihre Kinder und sagen, der hat sich verändert, ich kann das nicht einschätzen. Und das ist schon ein guter erster Schritt, weil diese Leute tatsächlich schauen können, was ist das für eine Gruppe.

Weil, zunächst mal ist ja eine Religiosität, auch eine sehr fromme Religiosität ist ja nicht das Problem und ich würde auch davor warnen, dass jeder dann irgendwie sagt, oh Gott, oh Gott, da läuft jemand mit einem langen Gewand und einem Bart oder einem Kopftuch rum und jetzt rufe ich mal den Verfassungsschutz, das wäre ja die vollkommen falsche Reaktion.

Aber es gibt eben Gruppen, kleine Gruppen, auch Moscheen als Anlaufpunkte, in den großen Städten zumindest, die eine sehr radikale Lesart predigen und die als Ausgangspunkt dienen können für eine weitere Radikalisierung. Und wenn man da aus der Zivilgesellschaft heraus Vereine und Einrichtungen hat, die ähnlich wie im Rechtsextremismus Angehörige beraten können oder auch Ausstiegsinitiativen starten können, dann wäre schon sehr, sehr viel gewonnen.

Scholl: Was war für Sie, bei Ihren Recherchen, Herr Schmidt, das Verstörendste?

Schmidt: Zu sehen, wie schnell das gehen kann, dass man junge Leute hat, die Hip-Hop hören, die mit ihren Jungs Fußball spielen gehen, die eigentlich so ganz normale Nachbarskinder von nebenan sind und tatsächlich innerhalb weniger Monate dann von zu Hause aus abhauen, nach Pakistan gehen, und fünf Monate später steht dann bei dieser Mutter das LKA vor der Tür und zeigt ihr Bilder der Leiche ihres Sohnes. Und mit solchen Angehörigen zu sprechen, das hat mich schon auch nachdenklich gemacht.

Scholl: "Jung, deutsch, Taliban", so heißt das Buch von Wolf Schmidt. Es ist im Christoph Links Verlag erschienen, hat 207 Seiten, kostet 16,90 Euro. Herr Schmidt, herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch!

Schmidt: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Buchcover "Jung, deutsch, Taliban" von Wolf Schmidt
Buchcover "Jung, deutsch, Taliban" von Wolf Schmidt© Ch. Links Verlag
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