Religion und Konflikte

"Der politisierte Islam ist ein relativ modernes Phänomen"

Multikultureller Friedhof Gerliswil, Gemeinde Emmen in der Schweiz: Symbole für die Weltreligionen Judentum, Christentum, Hinduismus, Islam und Buddhismus
Es gebt kaum reine Religionskonflikte, sagt der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf. © picture alliance / Urs Fueller
Friedrich Wilhelm Graf im Gespräch mit Vladimir Balzer und Axel Rahmlow · 08.07.2015
Welche Rolle spielt Religion in Konflikten? Ist sie deren Ursache oder verstärkt sie die, die schon bestehen? Beides ist falsch, sagt der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf - und überrascht mit ganz neuen Sichtweisen.
"Es gibt nur wenige reine Religionskonflikte", sagte der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf im Deutschlandradio Kultur. Für die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München hat er eine Vortragsreihe zum Thema "Religion und Gesellschaft - Sinnstiftungssysteme im Konflikt" konzipiert. Die meisten Religionskonflikte seien mit ethnischen Auseinandersetzungen verbunden:
"Das kennen wir aber aus der gesamten Geschichte der Menschheit, insofern erleben wir im Moment nichts Neues."
Religion stelle aber oft so etwas wie "eine Sprache zum Austragen von Konflikten" zur Verfügung, erklärte Graf:
"Sie bietet Symbole an. Sie bietet Scheidungen an – von 'wir' und 'die anderen'. Und wenn es dann innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche religiöse Ethnien gibt, dann ist oft Religion ein Mittel zur Verstärkung der Wahrnehmung von solchen ethnischen Differenzen."
Graf führte einige Beispiele für Konflikte an, in denen die "Sprache der Religion" eine Rolle spielt:
"Es gibt Konflikte zwischen unterschiedlichen religiösen Akteuren: Ein klassisches Beispiel aus der Gegenwart sind die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten oder in Nordirland Katholiken gegen Protestanten usw. – also die Konkurrenz von Religionen untereinander. Aber dann auch die Konkurrenz von Religionen und Wissenschaften, wie wir sie aus der gesamten Geschichte der Moderne seit den Verwissenschaftlichungsprozessen des 18. Jahrhunderts kennen."
"Verarbeitung von Kolonialismus-Erfahrungen"
Zurzeit erlebten wir in vielen europäischen Gesellschaften verstärkte Konflikte zwischen Religionen und Rechtssystemen:
"Also das Rechtssystem als ein Bühne dafür, wo religiöse Konflikte auch artikuliert werden können oder wo Leute ihre eigenen Rechtsvorstellungen gegen das säkulare Rechtssystem des Staates durchsetzen möchten."
Das Internet mit seiner "Mobilisierungsdynamik" heize diese Konflikte an – zum Beispiel beim Kopftuch-Streit, "ein absurder Konflikt, weil es ja niemanden wirklich stört, ob ein junges Mädchen ein Kopftuch trägt oder nicht", kommentierte Graf.
Graf betonte aber auch die Neuartigkeit dieser Konflikte:
"Der politisierte Islam, mit dem wir konfrontiert sind, ist ein relativ modernes Phänomen. Viele haben ja bei uns die Vorstellung 'Ach, das ist so was Mittelalterliches' – das ist aber nicht der Fall. Die modernen politischen Islam-Entwürfe, wie wir sie etwa in Ägypten finden, wie wir sie zum Teil in Tunesien finden, wie wir sie im Nahen Osten finden, sind sehr moderne Phänomene, die sehr viel mit der Verarbeitung von Kolonialismus-Erfahrungen zu tun haben. Insofern gibt es eine Spannung zwischen Islam und säkularer Moderne."
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