Religion

Atheisten aus Desinteresse

"Privatgrundstück - Beten verboten" steht auf einem Schild an einer Garagenwand in Dresden (Sachsen).
"Beten verboten" - manche Atheisten sind geradezu stolz darauf, dass bei ihnen nicht gebetet wird. © dpa picture alliance/ Arno Burgi
Von Uwe Bork · 03.08.2016
Die Mehrheit der Deutschen sieht ihren gelebten Atheismus als Beleg für die eigene Aufgeklärtheit, sagt der Journalist Uwe Bork. Nicht der Islam kappe die christlichen Wurzeln in Deutschland, sondern der zunehmende Atheismus.
Es gehört schon einiges dazu, mit einem einzigen Satz in die Geschichte einzugehen. Christian Wulff ist es gelungen. Deutschlands glückloser Ex-Präsident gehört zweifellos zu jenen, die sich mit nur wenigen Worten in die Geschichtsbücher geredet haben. "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" betonte er 2010 und fand damit nicht nur bei deutschen Muslimen Anerkennung.

Das Märchen vom christlichen Westen

Recht hat er, finde ich. Und dennoch: Der Anteil der Muslime in unserem Land liegt bei bloß fünf Prozent, die eigentlichen Umbrüche in der deutschen Gesellschaft gibt es anderswo. So bezeichnen sich etwa in Berlin nur noch 30 Prozent und in Leipzig gar nur 15 Prozent der Bevölkerung als Christen, selbst im pietistischen Stuttgart ist es kaum mehr als die Hälfte. Mögen die Scheinriesen eines rechten Populismus also noch so sehr gegen eine drohende Islamisierung wettern, eigentlich müssten sie einräumen: Es ist ein zunehmender Atheismus, der dem vorgeblich christlichen Abendland seine christlichen Wurzeln kappt und der unser Land verändert. Und zwar flächendeckend.
Zu den Märchen – oder etwas intellektueller formuliert: zu den Narrativen des deutschen Bewusstseins gehört es zwar, dass der Westen Deutschlands Teil der christlichen Kernlande dieser Welt war, während im Osten jahrzehntelang die Heiden herrschten und statt die Dreifaltigkeit lieber das Dreigestirn Marx, Engels und Lenin anbeteten.
Dieses Bild ist jedoch falsch. Sicher, in der DDR gehörte der Atheismus trotz einer Blockflöte spielenden Ost-CDU gleichsam zum Tafelsilber einer im dialektischen Materialismus geschulten Elite. Aber auch im Westen ist das Bekenntnis zum christlichen Gott schon lange nicht mehr zwingend für Seelenheil und Karriere.

Religion ist nie Privatsache

Hier wie dort vielleicht blühende, doch gottesferne Landschaften. Nur, dass im Westen der schöne Schein des Christentums noch gerne aufrechterhalten wird und den Pastoren wenigstens zu Weihnachten ein volles Haus garantiert. Im Osten erfolgte der Bruch mit den Resten der christlichen Tradition hingegen offen und Rituale wie die Konfirmation fielen als Jugendweihe in staatliche Hände.
Nun könnten wir angesichts dieser Bestandsaufnahme mit der trockenen Feststellung wieder zur Tagesordnung übergehen, so sei das eben in einer Gesellschaft, die sich die Trennung von Staat und Kirche auf die bürgerlichen Fahnen geschrieben habe. Wer was glaubt oder nicht glaubt, gehe niemanden außerhalb der eigenen vier Wände etwas an, und ein abwesender Gott gehöre ebenso zu Deutschland wie Jesus, Jahwe oder Allah.
Einspruch, Euer Ehren, möchte ich diesem bequemen Verdikt entgegenhalten. Religion ist nie Privatsache. Religion – und die Richtigkeit dieses Satzes wird uns derzeit immer wieder blutig demonstriert – Religion prägt Staaten und Gesellschaften. Wenn das aber so ist, muss sie auch ein öffentliches Thema sein, muss sie Dialogfähigkeit besitzen.

Atheismus aus religiösem Desinteresse

Genau daran fehlt es jedoch gegenwärtig auf allen Seiten. Die christlichen Kirchen scheinen sich manchmal darauf zurückgezogen zu haben, mit ihren Hilfswerken staatliche Defizite auszugleichen und ansonsten die Wunden zu lecken, die diverse Skandale und anhaltender Mitgliederschwund ihnen geschlagen haben. Auf islamischer Seite ist oft noch eine Theologie zu vermissen, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben auch nur zulässt.
Und bei den Atheisten und Agnostikern? Da sieht es nicht besser aus. Solange sich deren Mehrheit damit begnügt, die Frage nach Gott mangels Interesse oder intellektueller Kapazität schlicht nicht zu stellen, ist sie existentiell nicht satisfaktionsfähig. Für welche Religion auch immer.
Der Atheismus gehört zu Deutschland. Daran zu zweifeln, wäre töricht. Was er jetzt aber braucht, ist jemand, der ihn auch zum Reden bringt. Und – mit Verlaub – zum Denken.
Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Bork arbeitete als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Stuttgarter Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des SWR. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.
Uwe Bork, geboren 1951, ist seit 1998 Leiter der Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Außer seinen Filmen hat Uwe Bork auch mehrere Bücher veröffentlicht. In ihnen setzt er sich humorvoll-ironisch mit dem Alltag in deutschen Familien auseinander ("Väter, Söhne und andere Irre"; "Endlich Platz im Nest: Wenn Eltern flügge werden") oder räumt ebenso sachlich wie locker mit Urteilen und Vorurteilen über Religion auf ("Wer soll das alles glauben? Und andere schlaue Fragen an die Bibel"; "Die Christen: Expedition zu einem unbekannten Volk").
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