Religiöses Leben voller Widersprüche

Von Klaus Heymach · 13.11.2010
Aserbaidschan ist zwar atheistisch geprägt, die allermeisten Einwohner sind aber wie im benachbarten Iran Schiiten. Die Regierung rühmt sich ihrer religiösen Toleranz, kontrolliert aber in der Realität das religiöse Leben stark.
Die Kirche der unbefleckten Empfängnis steht zwischen einem Einkaufszentrum und einem Hotelneubau nicht weit vom Hafen. Der moderne Neubau aus hellem Sandstein hat ein spitz zulaufendes Dach, unter dem Giebel ein Kreuz aus Glasbausteinen. Im marmornen Kirchenraum feiern zwei Dutzend Gläubige die Sonntagsmesse, vor allem Ausländer und Diplomaten. In ganz Aserbaidschan gibt es nur etwa 300 Katholiken. Es ist eine der kleinsten religiösen Gemeinschaften in der Kaukasusrepublik. Pater Vladimir Fekete stammt aus der Slowakei, er arbeitet seit ein paar Monaten als Pfarrer in Baku. Für ihn ist es der erste Einsatz in einem mehrheitlich muslimischen Land.

"Alle Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben einen Sinn für das Geistliche oder für Gott. In diesen sechs, acht Monaten habe ich keinen Mensch getroffen, der mir gesagt hat, ich bin Ungläubiger oder Atheist. Die meisten haben keine religiöse Praxis wie Gebete oder Kirche. Das ist vielleicht nach 70-jährigem Kommunismus hier und 20-jährigem Kapitalismus die Situation, das spüre ich sehr stark hier."

Aserbaidschan ist eine streng säkulare Republik. Offiziell bekennen sich 96 Prozent der neun Millionen Einwohner zum Islam, die große Mehrheit davon sind Schiiten. Doch die Trennung von Kirche und Staat wird groß geschrieben, und besonders religiös sind die wenigsten. Pater Fekete muss sich als Priester nicht verstecken. Auf Ablehnung sei er als Katholik unter Schiiten bislang nicht gestoßen, sagt der 55-Jährige:

"Nach diesen paar Monaten bin ich sicher, dass die Situation ganz anders ist als im Iran oder in anderen sehr muslimischen Ländern. Vielleicht hat die Toleranz noch nicht die Parametren wie in Europa oder anderen Ländern, aber nach ihren Maßstäben sind sie sehr, sehr tolerant."

Hidayat Orujov: "Der aserbaidschanische Staat tut alles für die religiöse Freiheit. Zu sowjetischen Zeiten gab es nur 18 Moscheen hier, jetzt sind es mehr als 1700. Damals hatten wir offiziell nur Muslime, Christen und Juden. Heute sind mehr als 50 religiöse Gemeinschaften registriert. Religiöse Werte haben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion an Bedeutung gewonnen."

Hidayat Orujov ist der Minister für religiöse Angelegenheiten. In seinem Ministerium hängen goldgerahmte Bilder, die ihn bei Treffen mit orthodoxen Patriarchen, muslimischen Scheichs und jüdischen Würdenträgern zeigen. Der heute 66-Jährige wurde in der Sowjetunion als Atheist erzogen. Auf seinem Tisch liegt eine Miniaturausgabe des Korans. Sie wird überragt von der blau-rot-grün gestreiften Nationalflagge mit dem weißen Halbmond und dem Stern in der Mitte. Die weltanschauliche Neutralität des Staates ist dem Religionsminister sehr wichtig:

"Religion darf nicht politisiert werden. Jeder Versuch etwa des Iran, Aserbaidschan zu einem schiitischen Staat zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Manche arabischen Länder versuchen, die Wahhabiten hier zu unterstützten, aber auch die haben keine Chance. Aserbaidschan ist einzigartig, was Toleranz und Glaubensvielfalt angeht. Schon in der Sowjetunion war Aserbaidschan die einzige Republik ohne Fälle von Antisemitismus. Besucher aus dem Westen haben mir immer wieder gesagt, dass wir nicht nur unser Öl und Gas exportieren sollten, sondern auch unsere Toleranz."

Über dem Schreibtisch des Ministers hängt eine Landkarte mit den historischen Stätten von Bergkarabach, einem Landstrich in Aserbaidschan, der von Armenien besetzt ist. Seit bald 20 Jahren befinden sich Armenien und Aserbaidschan im Kriegszustand. Gegen das christlich-orthodoxe Nachbarland erhebt Orujov schwere Vorwürfe:

"Die Armenier haben keinen Respekt vor unseren Moscheen. Sie haben fast alle zerstört. Armenien versucht, den Konflikt um Bergkarabach zu einem religiösen Konflikt zu machen. Doch das wird ihnen nicht gelingen. Wir sind ein tolerantes Volk. Aber wir wollen unser Land zurück. Deshalb erwarten wir endlich Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft. Für den Westen ist Aserbaidschan ein Fenster zum Osten, für den Export von politischen und demokratischen Werten. Das darf die internationale Politik nicht länger ignorieren."

In der mittelalterlichen Altstadt ruft der Muezzin zum Abendgebet. Mit viel Geld aus dem Ölgeschäft wurde das Weltkulturerbe aufwändig restauriert. Auf den Dächern teure Bars und Restaurants. Der Ruf zum Gebet stört die Gäste kaum. Nicht einmal jeder Zehnte geht regelmäßig in die Moschee, schätzt der Religionsminister. Dennoch hat der Staat ein genaues Auge darauf, was die Imame predigen. Ilgar Ibrahimoglu war Gemeindevorsteher in der historischen Juma-Moschee. Wegen angeblich extremistischer Umtriebe musste er ins Gefängnis. Die Toleranz der Regierung habe enge Grenzen, sagt der 34-Jährige:

"Mit der Religionsfreiheit ist es wie mit allen anderen Lebensbereichen in diesem Land. Wir leben in einem autoritären Staat. Im Bereich der Medien gibt es verhaftete Journalisten, im Bereich der Religion gibt es Moscheen, die geschlossen oder abgerissen werden. Wer religiös ist und sich öffentlich religiös betätigt, dem geht es wie allen Andersdenkenden. Er muss mit Sanktionen rechnen."

Als Imam predigte Ibrahimoglu in einem der prächtigsten und ältesten Gotteshäuser von Baku. Die Juma-Moschee steht mitten in der Altstadt. Das Minarett, von dem der Ruf des Muezzins erklingt, ist 570 Jahre alt. Doch als der Bau vor sechs Jahren saniert werden sollte, musste auch die Gemeinde samt ihrem Vorbeter gehen. Zu sehr hatte sich Ibrahimoglu 2003 in die umstrittenen Präsidentschaftswahlen eingemischt und den einzigen Oppositionskandidaten unterstützt. Diese Wahlen, in denen Ilham Alijev zum Nachfolger seines Vaters bestimmt wurde, waren laut OSZE und Europarat massiv gefälscht. Um den langjährigen Staatschef Haidar Alijev rankt sich bis heute ein unübersehbarer Personenkult – für einen politischen Islam scheint da kein Platz.

Die Gemeinde von Imam Ibrahimoglu versammelt sich jetzt in einem Provisorium unter Neonröhren, ohne Minarett, an einer lauten Geschäftsstraße in der Neustadt. Immer wieder finden Menschenrechtsaktivisten, junge Blogger und Regierungskritiker den Weg dorthin. Hier wird nicht nur gebetet, sondern auch diskutiert und Klartext geredet. Das wecke den Argwohn der Behörden, sagt der Imam:

"Wir haben unsere eigene Vorstellung vom Islam und davon, was es heißt, ein guter Muslim zu sein. Doch wir sind keine Islamisten, im Gegenteil, ich will einen moderaten Islam, der gegen den Einfluss der Wahhabiten aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten immun ist. Wären wir Islamisten, dann setzten wir uns nicht für die Annäherung an Europa ein und wären auch nicht solidarisch mit inhaftierten Journalisten. Das alles verunsichert die Regierung. Wir haben unsere eigenen Ziele und beten nicht nur das nach, was die uns sagen."