"Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit" (1)

Der Stammbaum des Menschen hat noch Lücken

In der Ausstellung "ROOTS / Wurzeln der Menschheit" laufen zwei jugendliche Besucher am Donnerstag (06.07.2006) im Rheinischen LandesMuseum in Bonn an einer Plakatwand vorbei, die den Evolutionsverlauf zum Homo Sapiens beschreibt.
In einer Ausstellung, den Evolutionsverlauf zum Homo Sapiens beschreibt, laufen zwei jugendliche Besucher an einer Plakatwand vorbei. © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Hermann Parzinger im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 08.08.2016
In unserer Sommerreihe "Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit" beschäftigen wir uns mit Orten und Stationen der Menschwerdung. "Der Ursprung des Menschen liegt ganz klar in Ost- und in Südafrika", sagt der Prähistoriker Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Woher kommt der Mensch? Wie hat er sich zu dem entwickelt, was er heute ist? An welchen Orten findet man die Wiege(n) der Menschheit? Das sind Fragen, mit denen wir uns in unserer Sommerreihe "Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit" befassen.
Auch wenn der Ursprung des Menschen ganz klar in Ost- und Südafrika liege, sei hinsichtlich seiner Entwicklungsgeschichte unglaublich viel im Fluss, sagt der Archäologe und Prähistoriker Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
"Wir haben einen riesigen, komplexen Stammbaum vom frühesten Australopithecus bis zum Homo sapiens, wo viele Stellen noch nicht so ganz geklärt sind, wo neue Funde hinzukommen, die sich nicht immer lückenlos einfügen, sondern die zeigen, dass es immer komplexer eigentlich wird."

Die "neolithische Revolution" dauerte tausende von Jahren

In seinem Buch "Die Kinder des Prometheus" erzählt Parzinger die Geschichte der Menschheit von den Anfängen der Menschwerdung vor fünf Millionen Jahren bis zur Entstehung der frühen Hochkulturen nach der sogenannten "neolithischen Revolution". Den Begriff "Revolution" lehnt Parzinger in diesem Zusammenhang allerdings ab.
"Revolutionär oder Revolution hat immer so den Eindruck, dass es über Nacht passiert oder in ganz kurzem Zeitraum. Und das ist natürlich überhaupt nicht der Fall."
Die einzelnen Elemente, die das Neolithikum ausmachen - etwa Sesshaftwerdung, Tierzucht, Pflanzenanbau oder Keramikproduktion - hätten sich regional sehr unterschiedlich entwickelt: "Es gibt Gebiete, wo das auf einmal auftritt, es gibt aber Gebiete im Nahen Osten, wo das nach und nach hinzutritt."
Auch dürfe man nicht vergessen, dass gerade die Domestikation von Pflanzen und Tieren tausende von Jahren dauerte, sagt Parzinger.
"Das ist nicht eine Erfindung gewesen, die prompt und gleichsam über Nacht die Lebensverhältnisse verändert hat, sondern das war das Ergebnis eines wirklich sehr, sehr langen Prozesses."

Wie und wo hat sich die Menschheit entwickelt, wer waren unsere Vorfahren und wie haben sie gelebt? - Diesen Fragen gehen wir nach in unserer Sommerreihe "Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit".


Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Heute mit Hermann Parzinger zum Auftakt der Reihe, Prähistoriker und Archäologe, seit 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Vor 15 Jahren war er in aller Munde, als er in Südsibirien einen riesigen Goldschatz der reiternomadischen Skythen entdeckte, 2006 stieß er dann auf die im Permafrost vollkommen konservierte, mit Kleidung und Waffen versehene Eismumie eines wohl vor 2.300 Jahren gestorbenen skythischen Kriegers – auch das war damals eine Weltsensation. Und jetzt ist er am Telefon, kurz bevor er zu neuen Grabungen nach Sibirien aufbricht. Guten Morgen, Hermann Parzinger!
Hermann Parzinger: Guten Morgen!

Geophysik liefert viele neue Methoden

Frenzel: Bei dieser Erfolgsserie fragt man sich natürlich gleich: Nach welchen möglichen Sensationen suchen Sie denn jetzt?
Parzinger: Nun, der Archäologe sucht natürlich nie nach Sensationen, er freut sich natürlich, wenn er sensationelle Funde macht. Aber nein, worum es uns geht, ist, wir führen so ein bisschen diese Skythen-Forschung weiter fort. Es geht um Großkurgane, also große Grabhügel, in denen die Eliten, die Führungsschicht dieser Reiternomaden, bestattet wurde – die sieht man obertägig –, und was wir erreichen wollen, ist, das Umfeld besser zu verstehen.
Das waren ja Bestattungsplätze, aber im Umfeld dieser Grabhügel gibt es Ritualanlagen, Opferplätze, andere Installationen, und wir machen dort geomagnetische Vermessungen, die relativ schnell … also was man am Tag misst, kann man abends dann am Laptop die Daten verarbeiten lassen und hat einen Plan letztlich dessen, was im Boden steckt, was man obertägig nicht sieht. Und das wird dann spannend zu sehen – kann man diese Dinge aufgrund ihrer Form schon direkt deuten, oder gibt es interessante Dinge, die nicht so klar sind, da muss man mit Nachgrabungen dann weitermachen.
Frenzel: Das heißt, das, was Sie gerade beschrieben haben, das gibt mir so ein Bild, das etwas entfernt ist von der guten alten klassischen Grabung, wo ich die Schaufel sehe und die kleine Bürste, die etwas freilegt.
Parzinger: Das gibt es natürlich weiterhin, aber wir haben einfach heute großartige Methoden. Das fängt schon an mit der Luftbildarchäologie, die es ja lange gibt, oder die Satellitenbildauswertung, die zum Teil bis auf einen halben Meter genau Dinge erkennen lassen, die im Boden stecken und die man, wenn man über das Feld läuft, gar nicht sieht, und eben die Geophysik, die mit vielen Methoden – Geomagnetik, Elektrik, Seismik – wirklich uns das zeigen kann, was im Boden steckt.
Das ist für die Archäologie insofern wirklich eine revolutionäre Methode, die, wie gesagt, schon seit Jahrzehnten im Einsatz ist und immer weiterentwickelt wird, weil wir uns dann leisten können, eben gezielt nachzugraben. Wir müssen nicht immer mehrere Hektar sozusagen freischaufeln, sondern wir können ganz gezielt in den Boden gehen und die Dinge auch in einem größeren räumlichen Zusammenhang betrachten, also Dinge, die wir ausgraben. Insofern ist das eine Riesenchance für die Archäologie, aber die Schaufel, die Spitzhacke, den Pinsel, die wird man immer brauchen.

Ein riesiger, komplexer Stammbaum

Frenzel: Sie haben vor mittlerweile zwei Jahren eine fulminante Monografie vorgelegt, "Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift". Die Grundfrage unserer Sommerserie ist ja die nach den Ursprüngen der Menschheit – kann man einen Ursprung ausmachen, siehe da, der Mensch?
Parzinger: Natürlich, Sie haben es ja einleitend schon gesagt, der Ursprung des Menschen liegt ganz klar in Ost- und in Südafrika. Man muss auch sagen, es gibt immer wieder neue faszinierende Entdeckungen, auch der Weg dann aus Afrika heraus in unterschiedlichen Zeiten, bei unterschiedlichen Hominidenarten nach Asien, aber auch nach Europa – der Fund von Dmanissi, Atapuerca, das sind die beiden frühestens, sagen wir mal Europäer, die hier auftauchen. Das zeigt schon, dass da unglaublich viel im Fluss ist.
Und wir müssen uns ja klarmachen, wir haben einen riesigen, komplexen Stammbaum vom frühesten Australopithecus bis zum Homo sapiens, wo viele Stellen noch nicht so ganz geklärt sind, wo neue Funde hinzukommen, die sich nicht immer lückenlos einfügen, sondern die zeigen, dass es immer komplexer eigentlich wird. Und auf die ganze Welt gesehen und auf diesen riesigen Zeitraum von Millionen von Jahren betrachtet, sind es im Endeffekt wieder nur ganz wenige Funde. Also da ist sicher vieles zu erwarten, und ich fand es immer, obwohl ich selber nicht Paläolithiker bin, aber ich fand das immer eine der ganz, ganz spannenden Entwicklungen hin dann auch natürlich bis zur Sesshaftwerdung.

Der Homo habilis benutzte Werkzeuge

Frenzel: Was macht für Sie den Sprung aus, zivilisatorisch betrachtet, dass wir von einem denkenden Wesen, also von einem Mensch wirklich in menschlichem Sinne ausgehen können?
Parzinger: Natürlich ist das, was man als älteste Geräte oder Werkzeuge beurteilt, diese Chopper, die Geröllgeräte, die mit dem Homo habilis verbunden werden, die so ab 2,7, 2,5 Millionen Jahren auftauchen, die offenbar vom Homo habilis benutzt wurden, um Aas – sie waren ja noch keine Jäger –, also um Aas, um Fleisch zu zerteilen, das erste zielgerichtete Einsetzen von Werkzeugen, die man aber vorher bearbeiten muss. Wir haben ja auch von Tieren das Phänomen, dass immer wieder Objekte die Tiere in der Natur vorfinden, sie einsetzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – ob jetzt ein Schimpanse einen Stein nimmt, um eine Kokosnuss zu zerschlagen oder so.
Aber beim Menschen kommt noch eine andere Dimension hinzu, weil er – und das beginnt schon mit dem Homo habilis eben – durch das Spalten von Gestein scharfe Kanten erzeugt, um mit diesen scharfen Kanten dann eben bestimmte Ziele, also in dem Fall Tierkörper, zu zerschneiden in mundgerechte Teile, um dies zu erreichen. Und dann kommt sehr schnell auch die Erfahrung, welche Steine kann man überhaupt spalten, welche Steine, wenn man sie spaltet, erzeugen überhaupt scharfe Kanten. Und das ist natürlich schon ein zielgerichtetes, problemorientiertes Denken.
Frenzel: Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht, Keramikherstellung – in der Forschung gibt es ja den schönen Begriff des neolithischen Bündels dafür, manche sprechen von der neolithischen Revolution. Sie mögen das nicht so gerne, warum?
Parzinger: Revolutionär oder Revolution hat immer so den Eindruck, dass es über Nacht passiert oder in ganz kurzem Zeitraum, und das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. Es ist so, dass wir in vielen Gebieten ein allmähliches Hinzutreten dieser unterschiedlichen Elemente des neolithischen Bündels – also die Domestikation von Pflanzen, die Tierzucht, die Sesshaftwerdung, die Keramikproduktion, das Schleifen von Steingeräten, das kommt nicht überall … Es gibt Gebiete, wo das auf einmal auftritt, es gibt aber Gebiete im Nahen Osten, wo das nach und nach hinzutritt.
Und vor allem, man muss sich klarmachen, dass gerade die Domestikation von Pflanzen und Tieren, das war ein 10.000 Jahre langer Prozess des Erfahrungsammelns im Umgang mit der Natur, und das sollte man eigentlich aber dabei nicht vergessen, das ist nicht eine Erfindung gewesen, die prompt und dann sozusagen über Nacht gleichsam die Lebensverhältnisse verändert hat, sondern das war das Ergebnis eines wirklich sehr, sehr langen Prozesses. Und das deutlich zu machen, glaube ich, ist schon ganz wichtig.

Geschichte eröffnet anderen Blick auf die Zukunft

Frenzel: Wenn wir uns die Wanderungsbewegung in der Welt heute anschauen, was sagt denn der Archäologe – passieren heute Dinge, die die Archäologen in ein paar tausend Jahren bestaunen werden?
Parzinger: Nun, heute ist es natürlich schwieriger, Wanderungsbewegungen nachzuvollziehen, weil im Grunde wir eine Globalisierung in allen Lebensbereichen haben, ob das jetzt Kleidung ist oder Trinkgefäße oder Coca-Cola-Flaschen, also das ist schwierig. Es ist nicht mehr so regional gebunden, lokal gebunden, was man dann mitnimmt und wo man dann als Archäologe eben sozusagen mit der materiellen Hinterlassenschaft Wanderungsbewegungen nachvollziehen kann. Das ist heute sicher nicht mehr der Fall.
Und genetisch wird es auch schwierig, weil wir natürlich einen extrem ver- und durchmischten Genpool haben, dass es nicht mehr so einfach ist wie eben in diesen ganz, ganz frühen Zeiten, wo der genetische Fingerabdruck relativ klar Wege der Verbreitung und der Vermischung nachvollziehen lässt. Also, künftige Archäologen werden es ziemlich schwer haben. Vielleicht haben sie Glück, dass schriftliche Quellen oder auch audiovisuelle Dokumente unserer Zeit erhalten bleiben, die sie dann auf jeden Fall mit auswerten müssen, um wirklich das so zu rekonstruieren, wie es in unserer Zeit auch war. Aber das wird für die künftigen Archäologen eine große Herausforderung.
Frenzel: Der Philosoph Giorgio Agamben hat einmal gesagt: Man muss Archäologe sein, um die Zukunft zu verstehen. Wie denken Sie darüber, hat er recht?
Parzinger: Ja, ich denke schon. Das heißt doch eigentlich nur, dass man irgendwie einen breiten Horizont geschichtlichen Wissens braucht, um den Menschen und die Gesellschaft in ihrem Werden, in ihrem Werdegang zu verstehen. Ich meine jetzt nicht das Banale wie, die Geschichte wiederholt sich immer, ja, das ist so und der Mensch lernt trotzdem nur partiell etwas aus seiner Geschichte, aber ich glaube schon, dass es wichtig ist, das eigene Tun – und jetzt nicht nur von einem persönlich, sondern auch von der Gesellschaft, in der man lebt, von dem staatlichen Gebilde, in dem man sich aufhält – wirklich in einer längeren Tradition zu sehen. Das öffnet einen anderen Blick auf die Zukunft.
Frenzel: Hermann Parzinger, führender Prähistoriker und Archäologe, seit 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zum Auftakt unserer Reihe "Reise zu den Ursprüngen der Menschheit". Herr Parzinger, ich danke Ihnen, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit in Sibirien!
Parzinger: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema