Reise-Roman

Abenteuergeschichte und Liebesschnulze zugleich

Der Große Bazar in Istanbul
In Istanbul treffen sich die beiden Geschichten, die Hillen in seinem Roman parallel erzählt. © Afp / Bulent Kilic
Von Gerrit Bartels · 05.06.2015
Boris Hillen erzählt eine bunte Geschichte über einen Schwarz-Weiß-Fotografen, der sich in Indien aufmacht, um im deutschen Leverkusen die Farbfotografie zu erlernen. Eine Geschichte, die sich richtig gut liest, auch wenn ihr zum Ende hin die Luft ausgeht.
Irgendwann bei der Lektüre, spätestens bei den Istanbul-Passagen, erinnert man sich wieder des Mottos, das Boris Hillen seinem Roman "Agfa Leverkusen" vorangestellt hat. Es stammt von Jörg Fauser, aus dessen Roman "Der Schneemann", und lautet: "Ich weiß, du magst keine Geschichten, aber vielleicht brauchst du keine. Erinnerungen sind ja scheiße, aber Geschichten halten das Leben zusammen. Manchmal, wenn du den großen Horror hast, ist eine gute Geschichte das einzige, was noch hilft."
Ja, Jörg Fauser hat in den sechziger Jahren eine Art Drogenleben in Istanbul verbracht, davon zeugt vor allem sein Buch "Rohstoff". Bei Hillen spielen Drogen zwar nur eine untergeordnete Rolle, seine wichtigsten Protagonisten jedoch landen allesamt in Istanbul, in Sultanahmet-Nähe, dem Herzen der Stadt: die einen auf dem Weg von Indien nach Deutschland, Mitte der siebziger Jahre. Und die anderen genau umgekehrt, vierzig Jahre später, gleichfalls auf dem Landweg von Deutschland nach Indien.
Ein passionierter Geschichtenerzähler
Doch wichtiger als dieser Schauplatz ist, dass sich Boris Hillen tatsächlich als guter, passionierter Geschichtenerzähler erweist: "Agfa Leverkusen" wird von vielen kleinen, oft schnell hingetuschten Geschichten dominiert. Hillen erzählt zunächst, wie sein Held Kishone Kumar, ein junger indischer Fotograf, der nur schwarz-weiß fotografiert, eines Tages nach Leverkusen will, zur Firma Agfa, wegen der Farbfotografie. Sein bester Freund Amitabh, ein Motoradbastler, kommt mit, weshalb beide mit einem Motorrad fahren. Ein Schwarz-weiß-Fotograf, der sich im bunten Indien aufmacht, um im grauen Europa Farbfotografie zu lernen – das ist einer der Stränge dieses Romans,
Und das liest sich gut: Hillen findet für seine beiden indischen Helden den richtigen, schelmenhaft anmutenden Ton, und ordentlich was los ist auch auf der Reise, am Hindukusch, im Iran, in Istanbul. Nach und nach fügt Hillen dann Erzählschnipsel aus der Gegenwart in seinen Roman. Die junge Saxona unternimmt mit einem gewissen Tom, einem Alter Ego von Hillen, genau dieselbe Reise wie die beiden Inder vierzig Jahre zuvor. Sie ist dem Geheimnis ihrer Herkunft auf der Spur, denn ihre Mutter, eine Time-Magazine-Journalistin, und Kishone hatten sich seinerzeit in Kabul kennen- und in Istanbul liebengelernt. Saxona landet schließlich bei dem alt gewordenen Kishone und dessen Ehefrau Vimala in Mumbai und reist mit den beiden nach Goa.
Literarisch etwas überambitioniert
Das alles ist erst etwas verwirrend und wirkt literarisch überambitioniert an - wer spricht? Von wem ist die Rede? - doch die drei Erzählstränge gehen schließlich schön ineinander über.
Hillen erzählt vom Fotografieren, von der Liebe, von der Zeit der Beatniks, von Wahrsagerinnen, Freaks und Fremdenlegionären. "Abenteuergeschichte" und "Liebesschnulze" nennt er seinen Roman selbst, was es gut trifft. Auf was Hillen sich aber nicht so gut versteht: die eine große Geschichte zu erzählen, die seinen Roman zusammenhält, die ihn bis zum Ende trägt. Gerade der junge Kishone verliert auf seiner Reise Richtung Deutschland manche Kontur, genau wie sein Freund Amitabh. Zu viele Figuren bevölkern diese Abschnitte, und gerade die Berliner Passagen in den bewegten Apo- und RAF-Zeiten erinnern lediglich an bunte Abziehbilder ohne weitere Tiefenschärfe.
Als Schmöker geht "Agfa Leverkusen" gegen Ende die Luft aus. Aber allein, dass Hillen um so manche seiner Schwächen weiß, um manches Klischee, macht seinen Roman grundsympathisch: "Dass hinter jeder Person der große Abgrund lauert, würde das nicht viel mehr einem Klischee entsprechen?"

Boris Hillen: "Agfa Leverkusen"
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
446 Seiten, 19,99 Euro