"Reise nach Orkney" von Amy Sackville

Flitterwochen mit Realitätsverlust

Orkneys in Schottland
Die Orkneys im Nordosten von Schottland. Auf der Inselgruppe verbringt Richard seine Flitterwochen. © imago/Bluegreen Pictures
Von Ursula März · 11.08.2016
Literaturprofessor Richard hat seine 40 Jahre jüngere Lieblingsstudentin geheiratet, die Flitterwochen verbringen sie auf der Inselgruppe der Orkneys in Schottland. "Reise nach Orkney" erzählt eine Liebesgeschichte, in der nicht ganz klar ist, was real ist und was nicht.
Die Hauptrolle dieses Romans spielt die Landschaft einer Inselgruppe, der Orkneys. Ein Archipel im Nordosten Schottlands, wo Atlantik und Nordsee aufeinander treffen, die Küsten felsig und die Winde stürmisch sind. Wer nach der einsamsten Einsamkeit sucht, ist auf den Orkneys gut aufgehoben. Hier die Geschichte eines frisch vermählten und innig verliebten Paares spielen zu lassen, ist allerdings eine rechte aparte Idee, die sich die junge, 1981 geborene englische Erfolgsautorin Amy Sackville zutraut. Im Jahr 2010 erschien ihr gefeierter Debütroman "Ruhepol". Nun kommt ihr zweiter Roman im Deutschen heraus, "Die Reise nach Orkney".

Ihn fasziniert ihre geheimnisvolle Aura

So exzentrisch der Ort, an dem das Paar seine Flitterwochen verbringt, so exzentrisch ist dieses selbst, zumindest sein Altersabstand. Der renommierte Literaturprofessor Richard hat seine 40 Jahre jüngere Lieblingsstudentin geheiratet. Ihn fasziniert ihre geheimnisvolle Aura. Dass sie nicht ganz von dieser Welt, ja einem Fabelwesen ähnlicher als einer jungen Engländerin der Gegenwart ist, teilt der Roman frühzeitig durch diskret eingestreute Zeichen mit. Die Farbe ihrer Haare ist weiß, ihr heller, schmaler Körper erinnert Richard an eine Elfe, und auch ihr Verhalten stellt ihn vor Rätsel, die den Flitterwöchner zunehmend in einen detektivischen und obsessiven Beobachter verwandeln.
Stundenlang steht seine junge, namenlose Gattin am Meer, starrt in die Wellen, als erwarte sie, von dort heimgeholt zu werden. Nachts wird sie von Horrorträumen gequält, aus denen sie schreiend erwacht. Ist es Zufall, dass Richard zur gleichen Zeit an einem literaturwissenschaftlichen Werk über weibliche Sagengestalten des Meeres, über Nixen, Nymphen und Medusen arbeitet? Hat er sich in eine Projektion verliebt? In eine Figur, die Büchern entstiegen ist und reale Gestalt annahm?
"Reise nach Orkney" behandelt ein klassisches Thema der Liebesliteratur: Die wachsende Blindheit für das Liebesobjekt bei immer größerer Nähe. Stunde um Stunde ist Richard damit beschäftigt, seine rätselhafte junge Frau beim Beobachten zu beobachten, bis sie am Ende des Romans aus seinem Blickfeld und seinem Leben verschwindet. Wohin, vermag der Ich-Erzähler Richard nicht zu erklären.

Gerade so am Kitsch vorbei

Die Kombination aus Liebesmystik und mystischer Landschaft ist aus zahlreichen Fernsehfilmen bekannt, die nicht zufällig in der Landschaft Schottlands spielen. Bekannt ist auch ihr genretypischer Kitsch. Einen Anflug davon besitzt dieser Roman zweifellos. Was ihn davor rettet, vom Kitsch verschluckt zu werden, wie Richards Gattin vom Numinosen, ist zum einen die Kunst bildlich dichter Landschaftsbeschreibung, zum anderen die nüchtern-sachliche Protokollform des Romans.
Jedes Kapitel hat einen Wochentag als Überschrift. Der Ich-Erzähler Richard nimmt die Rolle eines Tagebuchschreibers ein, der sich Rechenschaft über seine Verstrickung und seine Manie ablegt. Er schreibt, als sähe er sich selbst als Berichterstatter über die Schulter. Die Position erhellender Selbstanalyse ist der notwendige Gegenpol zur Mystik dieser düsteren Schottlandgeschichte.

Amy Sackville, "Reise nach Orkney"
Aus dem Englischen von Eve Bonné
Luchterhand Verlag, München 20016
256 Seiten, 19,99 EUR