Reinheitsgebote

Geschichte einer "deutschen Tugend"

Halluzinogene Pilze
Beim Reinheitsgebot ging es auch um Drogenkontrolle: Berauschenden Kräutern und Pilzen sollte ein Riegel vorgeschoben werden. © picture alliance / dpa - David Veis
Von Tobias Barth  · 20.04.2016
Ob es um Sprache geht, um Hygiene oder um Blut: Der Begriff "Reinheit" zieht sich durch die Jahrhunderte deutscher Geschichte. Doch er war und ist nicht immer harmlos. Er ist auch zum Vehikel für politische Ziele und für kulturelle Abgrenzung geworden.
Ein Gewölbe in Weißensee, Thüringen. Matthias Schrot geht auf ein Metallfass zu – genauer gesagt, auf einen Lebensmitteltank:
"So, (Bier wird in Glas gefüllt) und so hört sich das an, wenn Bier direkt aus dem Tank ins Glas rauscht."
Schrot ist der Braumeister von Weißensee – und der Bürgermeister: "Und das ist unser Weißenseer Schwarzbier und jetzt kommt das Schönste an der ganzen Bierprobe: Wir kosten mal. Ja, ich würde sagen, leicht hopfiger Geschmack, wir hopfen unsere Biere ja nicht so stark traditionell. Wir gehen da eher sparsam um mit dem Hopfen und das ist ein leichtes bekömmliches Bier."
Mit seinem trüben Schwarzbier schenkt Matthias Schrot uns zugleich reinen Wein ein – bildlich gesprochen. Denn er kennt die Wahrheit über das deutsche Reinheitsgebot. Eine Wahrheit, die den Bayern nicht sehr schmeckt.
"Wir streiten uns auch nicht mit den Bayern, weil wir haben ja das älteste Reinheitsgebot. Wir müssen nichts erstreiten mehr. Und das ist eigentlich so der ganze in Anführungsstrichen Bierkrieg. Wir Weißenseer sehen das auch mit einem zwinkernden Auge, wenn sich die Bayern nach wie vor darüber ärgern, dass sie halt nicht das älteste Reinheitsgebot haben und das ist eigentlich unsere Freude."
Auf 1516 datiert das bayerische Reinheitsgebot, das heute als das deutsche Reinheitsgebot in aller Munde ist. Es diente vor 500 Jahren vor allem zwei Zwecken: Zum einen ging es um Versorgungssicherheit: Denn nur die zum Brotbacken ungeeignete Gerste sollte zu Bier vermaischt werden – nicht aber Weizen oder Roggen. Und es ging um Drogenkontrolle: Das Reinheitsgebot schob dem weit verbreiteten Zugeben von berauschenden Kräutern, Pilzen oder anderen Zusätzen einen Riegel vor.
Nicht anders war das im Thüringischen. In Weißensee, auf der hiesigen Runneburg, fand sich ein Dokument, aus dem Brau- und Bürgermeister Schrot immer wieder gern zitiert:
"Ein Hauptbestandteil des Artikel 12 besagt: Es soll auch nicht in das Bier weder Harz noch keinerlei andere Unfercke. Dazu soll man nichts anderes geben als Hopfen, Malz und Wasser. Das verbietet man bei zwei Mark und derjenige muss die Stadt für vier Wochen räumen. Und somit ist es erstmals niedergeschrieben worden, dieser ominöse Satz Hopfen, Malz und Wasser in Verbindung mit Bier 1434 hier in Weißensee."
Wenn Deutschland also heuer 500 Jahre reines Bier feiert, so ist das nicht die reine Wahrheit. Wie überhaupt die bereinigte Zutatenliste allein nichts sagt über die Qualität des Bieres. Martin Luther etwa monierte in seinen Tischreden:
"Es wird mit dem Bräuen soviel Gerste verterbet, dass man ganz Deutschland damit möcht erhalten, und solls also verterben, dass wir so schändlich Jauch daraus machen, welche wir danach an die Wand pissen."

Kapitel eins: Innere Reinheit – Äußere Reinheit

Ungefähr zur Lutherzeit wird das Phänomen der Reinheit in deutschen Landen kulturgeschichtlich bedeutsam. Zumal im intensiven Kulturkontakt zwischen dem christlichen Europa und dem muslimischen Orient. 1529 stehen die Türken vor Wien.
"Interessant ist dabei, dass die westliche Seite die osmanische Seite häufig so wahrnimmt, dass sie besonders sauber sei. Das wird immer wieder betont. Also viele Waschungen vollzieht, vor allem rituelle Waschungen vollzieht. Und das wird sehr deutlich vermerkt."
Der Historiker Peter Burschel stieß auf dieses Phänomen, als er Reiseberichte aus dem 16. Jahrhundert erforschte.
"Die Reisenden, die solche Beobachtungen machen, also Diplomaten, aber auch Geistliche, stehen vor dem Problem, wie sie das einordnen. Wie kann ich das in ein dichotomisches Weltbild, das das Osmanische Reich als Reich des Bösen identifiziert hat, wie kann ich das eingestalten. Und es sind zum Teil ganz triviale Beobachtungen, etwa die schlichte Tatsache, dass die osmanischen Männer im Sitzen pinkeln und nicht im Stehen wie im Westen."
Die Reinheit ist eine Erfindung der frühen Neuzeit, sagt Peter Burschel. Eine ihrer Funktionen: die kulturelle Abgrenzung.
"Und eine Möglichkeit, die Welt gewissermaßen wieder in Ordnung zu bringen, ist, dass man sagt, okay, das, was da im Osmanischen Reich zu beobachten ist, ist eine rein oberflächliche Schaureinheit gewissermaßen, die nichts mit der inneren Reinheit zu tun hat. Sie wird also nur performativ immer wieder zur Schau gestellt. Also diese Reinheit ist nach westlicher Perspektive eine Reinheit des Teufels."
Der Muselmann sei äußerlich rein, der wahre Christ innerlich. Mit diesem dialektischen Dreh wird die Reinheit zur ethischen Kategorie. Die deutschen Reformatoren verwenden sie besonders eifrig – zum Beweis, dass ihr Glauben doch der reinere sei. Zum Beispiel auf jenem Feld, das sie am ehesten mit Unreinheit und Sünde gleichsetzen. Dazu Peter Burschel:
"Es ist kein Zufall, dass Wittenberg vorangeht. Dass dort die Frauenhäuser, wie die Bordelle im Mittelalter hießen, zuerst geschlossen wurden. Später folgen katholische Regionen nach. Aber der unmittelbare Wirkungsraum Luthers ist sehr stark betroffen, da wird das sehr konsequent gemacht - durchaus auch gegen Widerstände, viele junge Männer dürfen nicht heiraten, Stadträte wenden sich an Reformatoren: Wenn ihr uns die Hurenhäuser dichtmacht, müsst ihr sehen, was ihr damit anrichtet. Aber die Reformatoren bleiben hart. Das heißt nicht, dass die Prostitution verschwindet, aber sie wird marginalisiert. Man kann, flapsig formuliert, von der Entstehung des Rotlichtviertels sprechen. Durch die Versittlichungstendenz, die immer darauf zielt, dass der Mensch rein zu sein habe und die Obrigkeit eine Pflicht habe, die Reinheit herzustellen über, wir würden heute sagen, Gesetze."

Kapitel zwei: Die reine deutsche Sprache

"Ich teutscher Michel / Versteh schier nichel, In meinem Vatterland / Es ist ein schand. Man thuet jetz reden / Als wie die Schweden /"

Mitten im Dreißigjährigen Krieg erscheint das Flugblatt: "Der teutsche Michel". Der anonyme Verfasser beklagt:
"Ein jeder Schneyder / Will jetzund leyder Der Sprach erfahren sein / Vnd redt Latein: Welsch vnd Frantzösisch / Halb Japonesisch / Wann er ist voll und doll / Der grobe Knoll."
Das gehört auch zu so einer Verlautbarung der Fruchtbringenden Gesellschaft, dass man sich eben der guten Sprache befleißigen möge, und da tritt dann auch so ein Attribut wie "rein", die "reine deutsche Sprache" auf. Da muss man aber eben sehen, dass man einerseits sich bei der Gründung der Gesellschaft in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges befindet. Und im Dreißigjährigen Krieg marodierten Truppen vieler Länder hier durch die Region und das hieß, man hörte vielleicht Schwedisch, man hörte viel, aber kein gepflegtes Deutsch.
Uta Seewald-Heeg ist die Vorsitzende der "Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft". Ihr Verein tritt in die Fußstapfen der 1617 in der Regentschaft des Fürsten Ludwig von Anhalt-Cöthen gegründeten Institution zur Pflege der Deutschen Sprache:
"Die Situation hatte sich zwar in den dazwischen liegenden 100 Jahren von der Reformation bis zur Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617 weiter entwickelt, aber wir sind immer noch in einer Zeit, in der Mundart gesprochen wurde, und in der es keine Regeln, keine Standards gab, um zu sagen, so wird es gesprochen, so wird es geschrieben."
Die Adligen und Gelehrten, die Ludwig von Anhalt in der "Fruchtbringenden Gesellschaft" zu Köthen versammelt, verpflichteten sich:
"… daß man die Hochdeutsche Sprache in jhren rechten Wesen und standt/ ohne einmischung frembder außländischer wort/ auffs möglichste und thunlichste erhalte/ uñ sich so wohl der beste(n) außsprache im reden/ alß d(er) reinesten art im schreiben uñ Reimen-dichten befleißige[n]."
"Wenn sie gesagt haben, die Mitglieder Fruchtbringenden Gesellschaft, unsere Sprache muss rein sein, dann meinten sie damit gar nicht ausschließlich, dass keine Fremdwörter gebraucht werden dürfen, sondern # die Reinheit, die Puritas ist etwas, was auch mit stilvoll, gut, schön, verknüpft ist."
Zu den Fruchtbringern gehört im 17. Jahrhundert unter anderem Philipp von Zeesen. Von ihm sind ganze Listen überliefert, in denen er neue Worte für das Deutsche prägt. Zahlreiche uns heute selbstverständliche Wörter gehen auf ihn zurück. Begriffe wie Anschrift für Adresse, Entwurf für Projekt, Abstand für Distanz und Freistaat für Republik.
"Die haben dazu beigetragen, dass auch größere Kreise an der Sprache partizipieren konnten. Dass man mehr verstand von dem, was wir in unserer Sprache transportieren."
Eine ganze Reihe der Neuschöpfungen Zeesens konnten sich allerdings nicht durchsetzen, etwa:
"Blitzfeuererregung"
für Elektrizität. Oder:
"Dörrleiche"
für Mumie.
"Lotterbett"
für Sofa und
"Meuchelpuffer"
für Pistole.
"Wenn man diesen Purismus, wie er im Zuge von nationalen Bewegungen im 19. Jahrhundert auftaucht, der hat einen ganz anderen Charakter als das Bemühen um Reinheit im 17. Jahrhundert. Da hat man auch noch nicht so wirklich den Gedanken, dass man irgendwas vielleicht ausmerzen oder tilgen müsse. Wenngleich ein Philipp von Zeesen ein Beispiel ist, dass er mit besonderer Akribie an die Sache rangeht und für alles deutsche Bezeichnungen findet."
"Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern, ist das Geschäft der besten Köpfe" – so sieht es Goethe 150 Jahre später. Dem Sprachpurismus seiner Zeit setzt er eines seiner Xenien entgegen:
"Der Purist.
Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern,
Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht."

Kapitel drei: Die deutschen Tonsetzer und der reine Klang

"Wenn wir schon salopp darüber reden, könnte man sagen, wir haben heute uns an eine Unreinheit von Klavieren und Orgeln gewöhnt, haben dabei Farbigkeit eingebüßt. Wenn wir es mit dem Maler und einer Farbpalette vergleichen, haben wir jetzt nur noch Grautöne statt Chromatik. Wir haben auf der anderen Seite gewonnen einen Pool von vielen Tonarten, man kann unbegrenzt modulieren. Aber im Vergleich ist es doch langweiliger geworden."
Veit Heller ist Musikwissenschaftler am Grassi-Museum für Musikinstrumente in Leipzig. Dieses einzige universitäre Musikmuseum Deutschlands beherbergt auch eine Orgel aus dem Jahr 1605, somit aus der Zeit, in der Musikinstrumente rein gestimmt wurden.
"Eine reine Terz zeichnet sich dadurch aus, dass sie ganz ruhig dahinströmt, ohne eine Bebung zu haben, das wäre z.B. hier die Terz G/H. (Orgel)
Und einen halben Ton daneben haben wir eine Terz, die entsteht dadurch, dass wir das syntonische Komma berühren. Eine Terz, die absolut unrein ist, eine sogenannte Wolfsterz.
Nun hat man das nicht unbedingt als schön empfunden vor 400 Jahren, Praetorius hat den schönen Spruch getan, man solle so spielen, dass der Wolf mit seinem widrigen Heulen im Walde bleibe.
1681 erfindet der Organist Andreas Werckmeister aus Halberstadt die wohltemperierte Stimmung für Tasteninstrumente. Gezielt werden Intervalle ein wenig unrein gestimmt, um so das Transponieren in beliebige Tonarten möglich zu machen.
"Wir müssen uns vorstellen, man hat Jahrhunderte lang reine Terzen gestimmt. Und auf einmal kommt einer und sagt, nein, es ist viel besser, die Terzen größer zu stimmen, dass sie anfangen zu beben, und zwar so scharf zu stimmen, wie es das Ohr leiden mag. Und das ist natürlich ne schwierige Frage: Was kann denn das Ohr leiden? Wenn es zuvor gewohnt war, dass ein Intervall ganz rein erklungen ist. Und da entsteht die wohltemperierte Stimmung, mit der man tatsächlich alle Tonarten spielen kann. Wir kennen dann als berühmtestes Beispiel Bachs Wohltemperiertes Clavier.
Allerdings auf der anderen Seite müssen wir gerade für uns heute sagen, dass wir uns an eine ungemeine Unreinheit gewöhnt haben. Gerade was die Tasteninstrumente betrifft, und etwas salopp formuliert könnte man sagen, man holt ja den Klavierstimmer, damit es anschließend stimmt. Aber nachdem der Klavierstimmer da war, stimmt außer den Oktaven nichts mehr."

Kapitel vier: Das Zeitalter der Hygiene

Im 19. Jahrhundert wachsen die Städte, rasant breiten sich Krankheiten aus. Zeitgleich wächst das Wissen über die medizinischen Zusammenhänge. Robert Koch entdeckt den Erreger des Milzbrandes und der Tuberkulose, die Infektionslehre entsteht und der Drang nach Hygiene:
"Die Ursprünge in diesen historischen Stadt- und Volksbädern sind diese Wascheinrichtungen, die es Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa gab. Die erste nachweislich in Hamburg, 1855, am Schweinemarkt, eine Wasch- und Badeanstalt, rein zum Zweck der Hygiene gedacht. Es war damals eine Bewegung, die von England her rüber schwappte und die sich rasend schnell in der Folge der negativen Folge der Industrialisierung sich ausbreiteten."
Kathleen Hirschnitz steht vor den Umkleidekabinen des historischen Stadtbades in Halle. 1916 wurde das Bad erbaut – als eines von etwa 150, die im ganzen Deutschen Reich entstanden.
"Man war der Meinung, dass Sauberkeit, Reinlichkeit Glanz und Wohlstand bringt und Orte des Schmutzes bringen Revolution und Unruhe. Es war ein sozialpolitisches Problem, dem man entgegenwirken wollte. Und es war auch so, dass wirklich die Oberschicht Ideengeber davon war. Und es war dann so wichtig, dass man sogar auf der Weltausstellung Modelle eines Stadtbades präsentiert hat als Lösung der Probleme infolge der Industrialisierung."
"Jedem Deutschen wöchentlich ein Bad!" – so der Leitspruch der Deutschen Badegesellschaft. Das Bad als Stätte der Zivilisation, als Quell einer reineren Gesellschaft – der frühe Sozialreformer Franz von Baader verbindet damit die Hoffnung auf eine Einbürgerung des Proletariats in die Gesellschaft.
Zur Eröffnung des Stadtbades in Halle setzt der Bürgermeister Richard Robert Rive es mit einem Tempel gleich:
"Öffne Dich nun, du weites Haus mit deinen lichten Hallen
und spende Gesundheit, Glück und Wohlbefinden all denen, die dich suchen werden."

Kapitel 5: Säuberungen – Der reine deutsche Volkskörper

"Reinheit funktioniert immer nur über Unreinheit. Also in dem Moment, wo ich mich als rein bezeichne, muss ich auch eine Vorstellung von Unreinheit haben. Es handelt sich hier um asymmetrische Gegenbegriffe."
Peter Burschel lehrte bis vor kurzem an der Humboldt-Universität Berlin Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Inzwischen ist er Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel – und damit, wenn man so will, ein Nachfolger Lessings:
"Reinheitsgebote dienen dazu, Eindeutigkeit herzustellen. Auch Kollektive auf eine gleichförmige Weltwahrnehmung einzuschwören. Die aber auch dichotomisch funktioniert: ich bin rein. Du bist unrein.
Und das geht drittens einher mit Grenzziehungsprozessen, auch z.B. zwischen Mann und Frau. Ein klassischer Weg, Frauen von bestimmten Positionen, etwa in der Kirche auszuschließen, ist gerade dieser Aspekt, sie unrein sein zu lassen. Ein klassischer Weg ist eben die Menstruation.
Diese drei Aspekte sind wichtig und können so weit gehen, dass bei Konflikten auch die jeweils andere Gruppe vollständig marginalisiert, ausgeschlossen, ja sogar physisch vernichtet werden können."
Der Historiker hat über Reinheit geforscht. Seine These: In der frühen Neuzeit werden Definitionen von Reinheit geformt, die bis in unsere Tage hinein wirken.
"Den Juden ist perfiderweise immer wieder vorgeworfen worden, sie seien unrein. Und zwar deshalb, da sind wir beim Thema Blut, weil sie ein Volk seien, das keinen Ort, keinen Platz in der Geschichte hat und sich deshalb immer mit anderen Gruppen vermischt habe und das habe zu einer Unreinheit geführt. Und da sind wir beim Blut …"
In der Gedenkstätte "Roter Ochse" in Halle wird an die Verbrechen der NS-Justiz erinnert. Gedenkstättenleiter Michael Viebig öffnet eine der alten Kerkertüren und zeigt auf das Original einer Verordnung vom 2. September 1939.
"Die Volksschädlingsverordnung versucht so ne Art Reinheit einer sogenannten Volksgemeinschaft herzustellen. Der Staat versucht zu definieren, was diese Volksgemeinschaft eigentlich ist, diese Definition ändert sich laufend und sie entsteht eigentlich durch Ausschluss. Indem man sagt, wer nicht dazugehört. Zu Anfang sind es die Staatsgegner, die man sowieso loswerden möchte.
Nach dem Reichstagsbrand kann man dann mit Hilfe der Notverordnungen, die dann rauskommen, erstmal alles wegschließen, ohne Gerichtsurteil, was der Staat für notwendig wegzuschließen hält. Dann kommen die ersten Verordnungen dazu, wie man umgeht mit Juden, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im April 33 ist das erste gesetzlich sanktionierte Beispiel, indem man Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten und andere Missliebige aus dem Öffentlichen Dienst entfernt, und dann kommen sehr schnell die Behinderten dazu, schon im Juli 1933 wird festgelegt, wer in Deutschland noch Nachwuchs zeugen darf und wer nicht. Und um auszuschließen, dass die, die das nicht mehr dürfen, vielleicht heimlich Nachwuchs zeugen, werden diese Leute zwangssterilisiert. Das wird also auch schon juristisch sanktioniert. 1935 die Nürnberger Gesetze, der Inhalt dieser Gesetze ist ja bekannt. Dann werden die nächsten Gruppen stigmatisiert oder zu Asozialen erklärt, wie das 1938 passiert. 1939 kommen die nächsten dazu, nämlich die, die per Volksschädlingsverordnung jetzt nicht mehr zu dieser Volksgemeinschaft zu zählen haben."
Die so genannte Verordnung gegen Volksschädlinge hat gerade einmal ganze fünf Paragraphen. Aber sie ersetzen im Grunde das komplette Strafgesetzbuch. Bei Fliegerangriffen begangene Bagatelldelikte wie Mundraub oder kleine Diebstähle können jetzt mit dem Tode bestraft werden.
"Und hier sehen wir dann diese klassischen Formulierungen, die es damals gibt, die Straftat muss besonders verwerflich gewesen sein oder sie muss gegen das gesunde Volksempfinden verstoßen haben. Dann kann der Staatsanwalt die Todesstrafe beantragen. Und wenn man sich die Begriffe anhört, merkt man schon, dass das gar nicht definiert ist. Sondern das ist ne Klassifizierung, die der Anklagevertreter jetzt trifft. Und jeder Richter, der weiß, dass nach Paragraph 4 Volksschädlingsverordnung verhandelt werden soll, weiß, was von ihm erwartet wird. Nämlich die Todesstrafe!"
Michael Viebig führt in einen kahlen Kellerraum. Vier mal fünf Meter, kurz unter Deckenhöhe kleine vergitterte Lichtschächte. Im Fußboden, unter Museumsglas, ist ein Ausguss zu erkennen.
"Wir befinden uns hier im ehemaligen Hinrichtungsraum des Zuchthauses. 1942 wurde dieser eingerichtet. Hier wurde zunächst eine Guillotine platziert. Ein besonders in der Nazizeit entwickeltes Instrument, was im Unterschied zu früheren Guillotinen sehr klein war, in so einen geschlossenen Raum hineinpasste.
Und dann im Sinne der Nazis den großen Vorteil hatte, dass man es nicht mehr abbauen musste. Es stand also sieben Tage pro Woche, 24 Stunden täglich zur Verfügung. Im Frühling 1943 wird zusätzlich eine Vorrichtung zum Erhängen von Menschen installiert, auch das ist ne besondere Konstruktion, weil der Tod an so einer Erhängungsvorrichtung 15 bis 17 Minuten dauerte. Der Tod tritt also durch Erdrosseln ein und nicht durch Genickbruch oder sonst welche Angelegenheiten.
In diesem Raum sind insgesamt 549 Menschen getötet worden. Menschen aus 15 Ländern Europas, 43 Frauen, 506 Männer. Bei den Frauen z. B. ist das Hauptdelikt Lebensmitteldiebstahl. Und wenn man sich die Akten anschaut, sieht man, die stehlen nicht aus Langeweile, sondern sie stehlen, um Lebensmittel zu beschaffen für ihre Kinder."
Michael Viebig hat die Urteile von Sondergerichten untersucht. Etwa 95 Prozent der Gnadengesuche liegen unbearbeitet bei den Akten, diejenigen, die geprüft wurden, wurden in den allermeisten Fällen abgelehnt. Die Reinheit der Lehre und die Säuberung des Volkskörpers – in der NS-Diktatur war sie von der Justiz gedeckt. Es brauchte Jahrzehnte der Aufarbeitung, bis diese Urteilspraxis im Namen des deutschen Volkes als das bezeichnet wurde, was sie war: verbrecherisch.
"Wir können das immer wieder beobachten in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Sehr häufig ist es so, dass das ganz offen passiert. Wir können aber auch so subkutane Prozesse feststellen. Das ist rhetorisch dann interessant, wenn plötzlich nicht mehr von Menschen, sondern von Insekten die Rede ist. Heuschrecken werden gern bemüht, ja: Der Flüchtling wird zur Heuschrecke. Und das sind letztendlich auch Reinheitsdiskurse. Entmenschlichungsdiskurse, immer wenn so etwas passiert, sollten wir sehr, sehr hellhörig werden."
(O-Ton Demonstrationsredner Pegida 19.10.2015)
"Es stellt sich heraus, dass Pegida punktgenau den Nerv dieses Volkes getroffen hat."
Auf der Demonstration "Ein Jahr Pegida" im Oktober 2015 feiert sich die Bewegung in Dresden. Zu den Hauptrednern gehört der Schriftsteller Akif Pirinçci, der das Szenario eines völlig von Flüchtlingen überfremdeten Deutschlands entwirft:
(O-Ton Akif Pirinçci)
"Jeder denkt, dass der Kelch an ihm vorübergehen werde. Deshalb wird es auch nicht dabei bleiben, dass dieser Scheiß-Staat die wehrlosen aus den Sozialwohnungen rausschmeißt. Bereits in ein paar Monaten werden Zwangseinquartierungen in ganz gewöhnliche Wohnungen und Häuser erfolgen, damit die kräftigen Männer aus dem Morgenland und der Savanne nicht so viel frieren müssen und fit für den Vergewaltigungsfrühling sind.
Aber es sind gar nicht mal die Moslems selbst, die den Rückfall in die Barbarei amtlich machen. Diese fordern nur und warten ab. Nein, es sind die Vaterlandsverräter deutscher Herkunft, die unter dem Deckmantel einer pathologisch-masochistischen Willkommenskultur und Multi-Kulti-Scheiße in den letzten Jahrzehnten emsig die Gräber für die Deutschen geschaufelt haben…".
Dazu Peter Burschels Kommentar:
"Immer dann, wenn solche Konzepte, Begriffe, Ideologien bemüht werden, dann würd ich sagen, dann wird es ernst. Weil wir können immer wieder beobachten, dass diese Formen von Schmähung, von Diskriminierung, Marginalisierung Vorformen sind von Aktionen, Menschen werden sehr häufig zuerst einmal unrein gemacht, für unrein erklärt, bevor man sie dann herauswirft, physisch angeht oder eben im Falle von Genoziden – so weit sind wir Gottseidank noch nicht – eben auch physisch vernichtet."
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