Reichtum und Dramatik des 20. Jahrhunderts

26.10.2006
Ihre Muttersprache war englisch, ihre Vatersprache deutsch, aufgehalten hat sie sich am liebsten in Frankreich und Italien: Sybille Bedford war knapp 95, als sie kurz vor ihrem Tod 2005 ihre Lebenserinnerungen veröffentlichte. Wer ihre glanzvollen Romane kennt, "Ein Liebling der Götter" und "Ein trügerischer Sommer", trifft manch eine Begebenheit wieder, die den Heldinnen dort schon begegnet war.
Denn die britische Schriftstellerin machte niemals einen Hehl daraus, dass sie ihre literarischen Erfindungen aus ihren eigenen Erlebnissen schöpfte. Stoff fand sich darin zuhauf, denn dieses Leben, alles andere als langweilig, spiegelt das vergangene Jahrhundert in seinen schillerndsten Seiten. Eine Weltbürgerin aus Neigung und Herkunft.

Ihre Kindheit verbringt sie beim Vater, einem eigenbrötlerischen, stets von Geldsorgen geplagten deutschen Baron, auf einem badischen Schloss, wo sie zwar keine gewöhnliche Schulbildung erfährt, dafür aber in die Geheimnisse der Renaissancekunst, der Literatur des 18. Jahrhunderts und der Haute Cuisine eingeführt wird.

Später begleitet sie ihre Mutter, eine temperamentvolle, selbstbewusste Dame der Gesellschaft, und deren jungen Liebhaber an wechselnden Stationen in Italien, bis sie sich an der französischen Riviera niederlassen, in Sanary-sur-Mer, einem kleinen Fischerort, der in den dreißiger Jahren zum Refugium der deutschen Emigrantenszene wird.

In funkelnden Miniaturen erzählt Sybille Bedford Episoden aus diesem Leben, von Menschen, die sie geprägt haben, von Vorbildern und Freunden wie Martha Gellhorn, W.H. Auden und Aldous Huxley. Da sind die Olympier der deutschen Haute Culture, wie sie es nennt, Thomas Mann und Lion Feuchtwanger, die sie, einmal anders, in boshaft schillernden Miniaturen skizziert. Es werden reichlich komische Anekdoten aufgefahren, wie sie im Juli 1940 den Mann‘schen Pudel Nico quer durch Amerika chauffiert und wie ihr am Ende weder von Hund noch Herrn Dank bekundet wird.

Hinreißend auch die Szene, als sie den ihr gänzlich unbekannten Terry Bedford heiratet, um ihren jüdisch-deutschen Pass gegen einen lebensrettenden englischen einzutauschen.

Wie in ihren Romanen gelingen ihr in ihrem Lebensrückblick meisterhafte Vignetten der Charakterzeichnung, mit leichter Hand hingetuscht wie auf einem impressionistischen Aquarell. Da ist die mondäne Halbschwester Jacko, aus erster Ehe des Vaters, oder die zwielichtige Issa, eine bildschöne und blitzgescheite Garconne, die allen Männern den Kopf verdreht und schließlich mit den Nazis kollaboriert. Und da ist die bewunderte und abgöttisch geliebte Mutter, das verführerische Flatterwesen, die - selbst die Tochter kann sie nicht retten - der Morphiumsucht verfällt.

Auch ihre eigene Person kommt auf den Prüfstand, wenn sie immer wieder, voller Süffisanz, ihre an "angeborener Faulheit" scheiternden Schreibversuche enthüllt - wobei es sich, vom Ergebnis her betrachtet, um durchaus produktive Untätigkeit gehandelt haben muss.

Memoirenschreiber neigen zur Nostalgie. Nicht so Sybille Bedford. Denn sie beherrscht beides: Einfühlsamkeit und Ironie, Wärme und Distanz. Mit großem Tempo, voller gewohnt geschliffener Dialoge und elegant gestalteter Szenen durcheilt sie das Jahrhundert. "Treibsand" ist das eindrucksvolle Zeugnis einer Zeitgenossin, gefühlvoll und unsentimental bis ins Mark.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Sybille Bedford: Treibsand. Erinnerungen einer Europäerin
Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork
SchirmerGraf Verlag München 2006
375 Seiten, 22,80 Euro