Reicher Sprössling unter Fischern

15.11.2007
Sein "Dschungelbuch" machte ihn in Deutschland berühmt. Rudyard Kiplings Roman "Über Bord", erzählt die Geschichte eines Millionärssohnes. Als er von einem Luxusdampfer ins Wasser fällt, wird er von einem Fischkutter gerettet. Dort muss er als Schiffsjunge arbeiten. Der englische Klassiker erscheint in neuer Übersetzung.
"Fühlt sich so an, als ob´s bei mir drinnen zu groß wär für draußen rum."

Ein Buch von Rudyard Kipling kennt jeder, "Das Dschungelbuch"; darüber hinaus ist der britische Schriftsteller nie so recht angekommen in Deutschland. Bis heute gibt es keine deutsche Gesamtausgabe, und erst 5 Prozent seiner über 1000 Gedichte sind übersetzt worden.

Vor 100 Jahren erhielt Kipling, - geboren 1865 in Indien-, den Literaturnobelpreis, damals erst 41 Jahre alt und damit der jüngste Literaturnobelpreisträger aller Zeiten. Schriftstellerkollegen wie James Joyce, Jorge Louis Borges und Bertolt Brecht waren begeisterte Fans von Kipling. Zu Lebzeiten wurde er wie ein Popstar verehrt: Menschenmassen pilgerten zu seinem Wohnhaus, und allein für den Vorabdruck von "Über Bord" zahlte eine amerikanische Zeitung nach heutigem Wert 600 000 €.

Der Roman "Über Bord" erschien 1896, bis heute ist er in der angelsächsischen Welt so berühmt wie "Das Dschungelbuch". Die Hauptfigur des Romans ist Harvey Cheyne: 15 Jahre alt, Sohn eines Multi-Millionärs und ein arrogantes, verwöhntes Ekelpaket. Bei einer Atlantiküberquerung im Luxusdampfer fällt Harvey über Bord und wird von der Besatzung des Fischkutters "We´re Here" aus dem Meer gezogen; die hält seine Geschichte vom Millionärssohn für erlogen und macht Harvey, - ob er will oder nicht -, zum Schiffsjungen an Bord.

Er erlernt die Arbeit eines Fischers; der Umgangston ist brutal, aber äußerst herzlich, und nach zwei Monaten Fahrt, - als der Kutter den Hafen anläuft -, ist aus dem arroganten, gelangweilten Schnösel ein patenter, wacher, glücklicher Junge geworden, - ein Roman mit einem Happyend. Klingt nach heiler Welt, könnte man meinen, aber das ist nur ein literarischer Trick Kiplings, um die Leser zu erreichen.

Kiplings Message war stets, den Respekt des Lesers vor der unveräußerlichen Würde seines Gegenübers zu wecken, egal, worin dessen Arbeit besteht. Ein Kritiker schrieb über Kipling: Charles Dickens wusste, wie die einfachen Menschen aussahen, Kipling kannte sie persönlich.

"Über Bord" liest sich wie "Tom Sawyer und Huckleberry Finn", und auch der Plot ist ähnlich: eine Freundschaft entsteht zwischen dem Millionärssohn Harvey und dem gleichaltrigen Matrosen Dan, -insofern ein klassischer Bildungsroman, mit der Leichtigkeit von Erich Kästner.

Kiplings Sprache war und ist bis heute hochmodern und experimentell; Kipling spielt in "Über Bord" mit unterschiedlichsten Sprachformen, mit dem Kauderwelsch der Seemannssprache und mit den unterschiedlichen Slangs der Mannschaft: Da gibt´s den Verrückten, dann die Pidgin-Sprache des Portugiesen Manuel oder auch den Koch McDonald, Schwarzafrikaner, Muttersprache Gälisch, Voodoo-Anhänger und Hellseher, - alles mit mäandernden, phantastischen Anekdoten und Geschichten durchmischt, dabei aber wiederum immer straff durcherzählt. "… und Harvey, der alles andere als stumpf war, begann all dies zu begreifen und zu genießen; den trockenen Refrain von Wolkenkämmen, die mit einem Geräusch wie von unablässigem Reißen überschlagen; die Hetzjagd der Winde, die über offenen Weiten die tiefblauen Wolkenschatten zusammentreiben, und den herrlichen Aufruhr des roten Sonnenaufgangs…"

Mehrere Übersetzer hatten sich bisher an "Über Bord" versucht und waren dabei selbst über Bord gegangen; diese Übersetzung nun von Gisbert Haefs, Chapeau, transportiert endlich die Genialität dieses Romans ins Deutsche. Da geht plötzlich der Vorhang einer ganzen Literaturwelt auf.

Rezensiert von Lutz Bunk

Rudyard Kipling: "Über Bord".
Übersetzt und herausgegeben von Gisbert Haefs.
marebuchverlag 2007, 287 Seiten, 18.00 €.