Regisseur über "Bolschoi Babylon"

Wie eine Flasche voller Schlangen

Szene aus dem Dokumentarfilm "Bolschoi Babylon" des britischen Regisseurs Nick Read: mehrere Ballett-Tänzerinnen auf der Bühne.
Szene aus dem Dokumentarfilm "Bolschoi Babylon" des britischen Regisseurs Nick Read © polyband
Nick Read im Gespräch mit Susanne Burg  · 23.07.2016
Vor drei Jahren wurde der Ballettchef des russischen Bolschoi-Theaters Sergej Filin Opfer eines Säureanschlags. Im Dokumentarfilm "Bolschoi Babylon" des Briten Nick Read sprechen etwa Tänzer, Musiker, Bühnenarbeiter und Manager über Eifersucht, Verrat und politische Einflussnahme.
Susanne Burg: Nick Read, der Regisseur von "Bolschoi-Babylon", herzlich willkommen! Als das Attentat im Januar 2013 bekannt wurde, war klar, dass es einiges an Ungereimtheiten hinter den Kulissen gibt. Als Sie dann und Ihr Kollege Mark Franchetti um einen Dreh baten - wie viel Hoffnung hatten Sie, dass Sie Licht in alles bringen würden, und wie sind Sie dann aufgenommen worden?
Nick Read: Als die Geschichte publik wurde, belagerte die internationale Presse das Bolschoi schnell. Das kann man sich lebhaft vorstellen. Und das Bolschoi konnte die Journalisten nicht wirklich auf Abstand halten. Also gingen wir zusammen mit zahlreichen anderen Kameraleuten und Journalisten hinein und schafften es, eineinhalb Tage lang zu filmen. Als dann der Solo-Tänzer Pawel Dmitrischenko, einer der ihren, verhaftet wurde, geriet das gesamte Haus in eine Art Schockzustand. Den Medien wurde dann der Zugang während der nächsten sechs, sieben Monate verwehrt. Als Wladimir Urin, der eine wichtige Rolle in unserem Film spielt, im Juli 2013 Intendant wurde, konnten wir mit den Dreharbeiten fortfahren. Wir standen in Konkurrenz zu zahlreichen anderen Produzenten aus Großbritannien, den USA und weiteren Ländern, die immer noch auf freien Zugang warteten. Ich denke, wir haben uns durchgesetzt, weil wir bereit waren, von vorne anzufangen, und weil wir einen Film fürs Kino drehen wollten. Also wussten sie, es würde etwas anderes geben als eine Serie aufgehübschter Nachrichten-Clips. Und weil wir für die gesamte Spielzeit um Zugang zum Bolschoi baten, konnten sie sicher sein, dass wir uns Zeit nehmen würden. Wir machten unsererseits klar, dass es keine Tabus bei Fragen geben dürfte. Alles, was sie im Gegenzug von uns erwarteten, war, dass der Film sich um Gerechtigkeit bemüht, um eine ausgeglichene Sicht. Ich denke, dies ist uns gelungen.
Susanne Burg: Sie haben erwähnt, Wladimir Urin wurde neuer Intendant im Bolschoi-Theater. Da durften Sie dann wieder drehen. Urin wurde aber auch vom Kreml eingesetzt. Man sieht aber auch in Ihrem Film, wie sehr er aufräumen wollte. Welchen Eindruck hatten Sie von der Glaubwürdigkeit seines Vorhabens?
Nick Read: Wladimir Urin ist ein faszinierender Charakter. Einer der interessantesten, die ich bisher gefilmt habe. Er steckt voller Widersprüche. Einerseits wurde der neue Intendant des Bolschoi-Theaters vom Kreml ausgewählt. Man könnte also denken, er sei ein hundertprozentiger Putin-Anhänger. Aber dann sagt er im Radio: Er habe den Job übernommen auch zu seinen Bedingungen. Dazu zählte, dass es – anders als bei seinen Vorgängern – keine politische Einmischung seitens des Kreml gäbe. Also, es gibt den Putin-Anhänger Urin, ein Manager der alten Sowjet-Schule. Er hatte zuvor schon 15 Jahre im Stanislawski-Theater verbracht und den Job dreimal hingeschmissen, weil er den "Giftbecher" nicht trinken wollte und wusste, dass er immer in der Schusslinie stehen würde. Anderseits ist da der Querdenker und Eigenbrötler Urin, der die Dinge wirklich anders angehen will und Transparenz schaffen möchte. Dieses Beharren auf Durchlässigkeit ermöglichte uns den Eintritt in die Bolschoi-Welt. Wir durften überall hin im Haus. Begleitet wurden wir nur, wenn wir die Orientierung in diesem unfasslichen Gebäude verloren hatten.

Gerüchte über sexuelle Gefälligkeiten und Bestechungsgelder

Susanne Burg: Es arbeiten 3000 Menschen im Bolschoi ...
Nick Read: 3000 Leute arbeiten im Bolschoi und es gab nicht einen Menschen, den wir nicht hätten sprechen können. Und wir haben mit sehr vielen geredet, mit Mitgliedern des Opern-Ensembles, mit Bühnenarbeitern, Musikern, Platzanweisern und Managern. Die Personen auszuwählen, die dann im Film auftauchen, war wirklich eine schwierige Aufgabe. Wir haben so viel mehr Persönlichkeiten aufgenommen als dann in der Endfassung des Films zu sehen sind.
Susanne Burg: Es kommen einige Leute zu Wort, so der Stiftungsratsvorsitzende Alexander Budberg. Der sagt zum Beispiel, wenn jemand mit Säure übergossen wird, ist das ein Symbol, dass das ganze System krank ist. Und dann sagt jemand anderes, irgendwas hat sich verändert, es ist nicht das Bolschoi, das ich kenne. Wie sehr sind diese Veränderungen einfach die normalen Veränderungen eines jeden solchen kulturellen Apparates oder wie politisch sind diese Veränderungen auch?
Nick Read: Es ist kein Geheimnis, dass es innerhalb von Ballettkompagnien immer wieder gewaltig kracht zwischen Leuten, die alle ein starkes Ego haben. Im Bolschoi sind die Streitigkeiten aber stärker politisch motiviert als anderswo. Hinter dem Säureanschlag stand der Zusammenstoß zweier Titanen. Der georgische Tänzer Nikolai Tsiskaridze, dessen Persönlichkeit wir im Film ausführlich beleuchten und den manche für den besten Tänzer seiner Generation halten, fand, dass ihm Sergej Filins Position zustand. Zwischen den beiden herrschte heftige Eifersucht.
Wäre die Atmosphäre am Bolschoi weniger vergiftet gewesen, hätte es den Säureanschlag nicht gegeben. Ein Tänzer vergleicht das Hausklima mit einer Flasche voller Schlangen. Die politische Stimmung im Bolschoi ist ja auch ein Abbild dessen, was draußen vor sich geht: Patronage und Vetternwirtschaft. Wie Einzelne bevorzugt werden, das hat der Casting-Prozess deutlich gemacht, den Sergej Filin als künstlerischer Direktor mit Tänzern durchführte. Es gab Gerüchte über sexuelle Gefälligkeiten und Bestechungsgelder. Korruption zu unterbinden und aufzuräumen, das war die Aufgabe, die Wladimir Urin sich vorgenommen hatte.

Ein Ozeanriese, der fährt und fährt und fährt

Susanne Burg: Es wird immer wieder gesagt, da ist Vetternwirtschaft, Eifersucht, Korruption - aber so ganz genau, wie sieht es wirklich aus, das erfährt man nicht. Gab es Grenzen, wo Sie nicht mehr weiter recherchieren konnten?
Nick Read: Unser größtes Problem war nicht die Zensur, sondern die Selbstzensur. Die Ballerinas und Tänzer, so wie alle anderen Bolschoi-Mitarbeiter, erzählten nicht alles, denn sie sind und bleiben nun mal Angestellte des Bolschoi. Es gab einige Personen, die weiter Korruptionsvorwürfe erhoben und von Schmiergeldzahlungen und sexuellen Gefälligkeiten erzählten. Wir haben nach Namen, Zeitdaten und Summen gefragt, die geflossen sind, und versucht, das mit versteckten Kameras aufzunehmen. Das haben wir aber nicht verwendet im Film. Im Bolschoi wollten wir die größeren, dramatischeren und shakespeareschen Motive der Eifersucht, des Verrats und dieses wunderbare menschliche Zusammenspiel erkunden. Ich glaube, dass die Leute des Bolschoi ziemlich aufrichtig Auskunft gaben über die Art politischer Einflussnahme und Korruption, die sie erleben. Aber dies zu beweisen ist natürlich schwer. Wir sind ja dort auch nicht als investigative Journalisten 'eingedrungen'.
Susanne Burg: Sie enden den ganzen Film mit einer Kritik des New York Observers, der sagt "das Bolschoi kommt, das Bolschoi ging. Wird Russland sich jemals ändern?"
Nick Read: Das Bolschoi wird immer die einzigartige politische Kultur spiegeln, die in Russland existiert. Von außen betrachtet, ist sie den meisten von uns fremd. Vetternwirtschaft, Bevorzugung, gegenseitige Gefälligkeiten im Sinne von "eine Hand wäscht die andere" - all das existiert im Bolschoi genauso wie Korruption außerhalb des Hauses. Da bin ich mir sicher. Aber andererseits ist das Bolschoi die russische Ikone schlechthin, das steckt in der DNA eines jeden Russen und daran wird sich nichts ändern. Das Bolschoi-Theater wird immer überleben oder, wie jemand im Film sagt: Es ist ein Ozeanriese, der einfach fährt und fährt und fährt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das Gespräch wurde übersetzt von Sigrid Brinkmann.

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