Dienstag, 19. März 2024

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Die Kunst der Illusion
Blendwerk im Dienste der Wahrheit?

Spiritistische Medien treiben seit über 170 Jahren ihr Unwesen. Und seit ebenso langer Zeit versuchen Zauberkünstler, sich ihren betrügerischen Gaukeleien entgegenzustellen. Kann die Literatur von ihnen lernen?

Von Yannic Han Biao Federer | 10.01.2020
Buchcover Matthew L. Tompkins: „Die Kunst der Illusion“
Magier, Spiritisten und wie wir uns täuschen lassen (Dumont Buchverlag)
Es sind harte Zeiten für die Freunde des postmodernistischen Spiels mit Fiktionseben, für die Anhänger der poststrukturalistischen Ablehnung jeder metaphysisch sanktionierten Wahrheit. Denn seit der US-amerikanische Präsident seine Reden größtenteils mit alternative facts bespielt und Soziale Medien von Verschwörungstheorien überquellen, erscheint es unzeitgemäß, dem aufklärerischen Wahrheitsstreben seine verdrängten Seiten unter die Nase zu reiben. Wer würde heute noch, wie Nietzsche, wettern:
"Nur durch Vergeßlichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen, er besitze eine ‚Wahrheit‘ in dem eben bezeichneten Grade. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie, das heißt mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln. (...) Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen."
Gewisse Reize nehmen wir nicht wahr
Kaum verwunderlich also, dass in dieser Gemengelage auch die literarische Fiktion unter Druck gerät und ihr Verhältnis zur außerliterarischen Umwelt neu sondiert wird. Menasse, Würger, Relotius, Moreno, die einschlägigen Debatten sind uns noch geläufig, während zugleich Autofiktion zum Passepartout-Begriff für unterschiedlichste Schreibweisen avanciert. Soweit, so vertrackt.
Hilfreich könnte es da sein, einmal über den Tellerrand zu sehen und zu beobachten, wie andere Kunstsparten mit dem Verhältnis von Illusion und Wahrheit umzugehen wissen. Bühnenzauberer zum Beispiel. Matthew L. Tompkins, ist Mitglied in Londons ehrwürdigem Magic Circle und zugleich Wissenschaftler auf dem Feld der experimentellen Psychologie. Die Täuschbarkeit des menschlichen Gehirns sieht er entspannt.
"Statt Illusionen als Fehlfunktionen des kognitiven Systems zu begreifen, sollten sie als Beleg dafür betrachtet werden, dass unser Gehirn hoch spezialisiert und anpassungsfähig ist. Dass wir gewisse Reize nicht wahrnehmen, liegt oft daran, dass unser Verstand in der Lage ist, irrelevante Informationen auszublenden. Dinge zu sehen, die nicht wirklich da sind, kann ein Anzeichen dafür sein, dass unser Verstand Muster und Bewegungen vorwegnimmt, um uns die Interaktion mit der Umwelt zu erleichtern."
Die Seáncen spritistischer Medien
Dass Tompkins, der Zauberkünstler, zum experimentellen Psychologen geworden ist und uns mit einigem aufklärerischen Eifer Kartentricks, optische Täuschungen und scheinbar paranormale Phänomene erläutert, macht ihn keineswegs zu einer Anomalie seiner Zunft. Im Gegenteil. Er steht in einer langen Tradition – und Tompkins erzählt kenntnisreich und anschaulich von ihren Ursprüngen. Im 19. Jahrhundert griff eine spiritistische Welle um sich: Medien überbrachten Nachrichten von Verstorbenen, fertigten Fotografien von Geistern an, spien Ektoplasma, also Materie aus dem Nichts. Während nicht wenige Naturforscher den Lockungen des Übernatürlichen verfielen, waren es vor allem Zauberer, die sich den Versprechungen des Spiritismus entgegenstellten.
Auch Überläufer gab es, etwa Erik Weisz, besser bekannt als Houdini. Er begann seine Karriere als Medium, wechselte später das Fach – und unterwanderte in trickreichen Verkleidungen die Seáncen spritistischer Medien, um sie bloßzustellen. Houdini versuchte auch, einem befreundeten Kriminalschriftsteller den Glauben an den Spiritismus auszutreiben, doch, entgegen dem skeptizistischen Rationalismus seines Romanhelden Sherlock Holmes, war Sir Arthur Conan Doyle übernatürlichen Theorien alles andere als abgeneigt. So stur war der ausgebildete Augenarzt, dass er nach einer Aufführung Houdinis folgerte, Houdini müsse selbst ein Medium sein, er wolle es nur nicht zugeben.
Spiritismus und Zauberei
Die Unterscheidung von kunstvollem Bühnenzauber und spiritistischem Spuk gestaltet sich demnach äußerst prekär, sie hängt am Ende von der Rezeptionshaltung derer ab, die eine Darbietung entweder für eine aufwendig inszenierte Verkettung trickreicher Vorspiegelungen halten wollen – oder für die leibhaftige Präsenz übernatürlicher Wesenheiten. Damit aber scheint das Verhältnis von Spiritismus und Zauberei dem von literarischer Fiktion und vorgeblich authentischer Erzählung zu ähneln, etwa Memoiren, Autobiographien, etc. Denn während erstere ihr Blendwerk immer als eine künstlerische Verflechtung ausweist, die Begebenheiten schildert, die so nicht geschehen sind, oder als ob sie so nicht geschehen wären, behauptet letztere, alle Darstellung sei unmittelbarer Ausdruck faktischer Wirklichkeit.
Entscheidend ist dabei aber weniger das, was im Text steht, als das, was über dem Text steht, denn der Text einer Autobiographie lässt sich nicht ohne Weiteres von dem eines Romans unterscheiden und umgekehrt. Die Genre-Bezeichnung steuert, auf welche Weise das Erzählte verstanden werden soll. Als kunstvolles Arrangement sprachlicher Mittel. Oder als Bericht aus der ganz unmittelbar faktischen Realität. Dabei ist die Mittelbarkeit eigentlich gar nicht abzustreifen, das Erzählen kommt ohne Mittel nicht aus, ohne Medium geht es nicht, nur bedarf dieses Medium hier keiner abgedunkelten Räume oder hervorgewürgten Mulls, es genügen Syntax, Lexik und Stil. Das Medium heißt Sprache, scheint ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand zu sein, und doch, wenn sie sich ins Narrative wendet, verwandelt sie sich in einen reichhaltig bestückten Zauberkasten, mit dessen Hilfe täuschend echte Illusionen in den Kopf des Rezipienten gesetzt werden können.
Ein tragisches Reiseerlebnis
Lässt sich die Frage nach der Wahrheit von Fiktion also im anmutigen Gewand des Zauberkünstlers stellen? Alles Blendwerk, aber im Dienste der Wahrheit? Und was wenn Literatur sich offensiv den Bühnentricks eines Magiers widmet?
"Cavaliere Cipolla, (...) ein fahrender Virtuose, ein Unterhaltungskünstler, Forzatore, Illusionista und Prestidigitatore (so bezeichnete er sich), welcher dem hochansehnlichen Publikum von Torre di Venere mit einigen außerordentlichen Phänomenen geheimnisvoller und verblüffender Art aufzuwarten beabsichtigte. Ein Zauberkünstler!"
Thomas Manns kurze Erzählung "Mario und der Zauberer" ist untertitelt mir der mehr als vagen Genrebezeichnung: "Ein tragisches Reiseerlebnis", und Manns Text gleicht sich damit dem Illusionista Cipolla an, dem Zwiebelzauberer also, der seine anfänglichen Taschenspielertricks nur ins Repertoire aufnimmt, um die örtlichen Behörden von seinen späteren, abgründigeren Nummern abzulenken. Diese erweisen sich aber als äußerst zeitgemäß. Denn die aufgeheizte nationalistische Stimmung im ligurischen Küstenstädtchen, in der sich die internationalen Badegäste zunehmend unwohl fühlen, ist nur ein milder Abglanz der faschistischen Massenbegeisterung, die im Italien der 1920er Jahre herrscht – Cipolla dagegen ist ihr innigstes Sinnbild.
Der Zauberkünstler ist ein Hypnotiseur, der die unbewussten Begierde seiner Opfer auszunutzen weiß. Brutal bricht Cipolla den Willen seiner Probanden, gerade derjenigen, die sich ihm zu widersetzen versuchen, sich nicht per Hypnose zum Tanz zwingen lassen wollen und dann doch, zunächst gequält, dann fast erleichtert, erste Zuckungen in hektischen Stepptanz übergehen lassen.
Die Rollen schienen vertauscht
Wie Sigmund Freud, und der Massenpsychologe Gustave Le Bon vor ihm, beschreibt Thomas Mann unumwunden die politische Dimension der hypnotischen Beziehung. Als Cipolla vorgibt, den telepathischen Weisungen des Publikums Folge zu leisten, heißt es:
"Die Rollen schienen vertauscht, der Strom ging in umgekehrter Richtung, und der Künstler wies in immer fließender Rede ausdrücklich darauf hin. Der leidende, empfangende, der ausführende Teil, dessen Wille ausgeschaltet war, und der einen stummen in der Luft liegenden Gemeinschaftswillen vollführte, war nun er, der solange gewollt und befohlen hatte; aber er betonte, daß es auf eins hinauslaufe. Die Fähigkeit, sagte er, sich seiner selbst zu entäußern, zum Werkzeug zu werden, im unbedingtesten und vollkommensten Sinne zu gehorchen, sei nur die Kehrseite jener anderen, zu wollen und zu befehlen; es sei ein und dieselbe Fähigkeit; (...) sie bildeten zusammen nur ein Prinzip, eine unauflösliche Einheit; wer zu gehorchen wisse, der wisse auch zu befehlen, und ebenso umgekehrt; der eine Gedanke sei in dem anderen einbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien (...)"
Bekanntlich überreizt Cipolla am Ende sein Blatt, Mario, der stille und geschätzte Kellner des Grand Hôtels, stürzt von der Bühne – und erschießt Cipolla mit einer plötzlich hervorgezogenen Pistole. Eine politische Provokation, nicht allein für das faschistische Italien, dessen literarische Öffentlichkeit lange ein eher verwickeltes Verhältnis zu Manns "tragischem Reiseerlebnis" unterhielt. Zunächst liegt hier nun die umgekehrte Beziehung vor, die uns aus Tompkins Geschichte der Zauberei bekannt ist. Es werden keine Taschenspielertricks als paranormale Phänomene verkauft, sondern umgekehrt, Cipollas Taschenspielertricks verhüllen zu Beginn seine gefahrvolle Hypnoseshow.
Jeder kann getäuscht werden
Zugleich zaubert Mann uns eine rhetorisch evozierte Fiktion vor das innere Auge, in der wir einen anderen rhetorisch begabten Magier beobachten dürfen, wie er sich des Publikums bemächtigt, um sich an ihm zu bereichern. Und das sich ihm, zu allem Überfluss, willfährig unterwirft. Dass Mann hier Cipolla als Karikatur Mussolinis nutzt, ist unzweideutig, so unzweideutig, wie er selbst sich hier in die Tradition aufklärerischer Zauberkünstler stellt. Tompkin würde es ganz ähnlich sehen.
"Zauberei erinnert uns daran, dass jeder hinters Licht geführt werden kann (...) Im Kontext einer Zauberdarbietung können Illusionen unterhaltsam und harmlos sein, aber wenn es um die Demonstration eines Mediums geht, können dieselben Illusionen gefährliche und rücksichtslose Versuche sein, Menschen auszubeuten, die emotional verletzlich sind."
Die Fiktion, so könnte man schließen, erlaubt es, das Blendwerk offenbar werden zu lassen, zu dem Sprache fähig ist, das in der Literatur im geschützten Rahmen der Kunst zum Zuge kommt. Während es andernorts blutige Konsequenzen fordert.
Tompkins, Matthew L.: "Die Kunst der Illusionen. Magier, Spiritisten und wie wir uns täuschen lassen"
Dumont Buchverlag, Köln, 224 Seiten, ca. 400 farbige Abbildungen, 34 Euro.