"Regionalisieren, um das Nationale zu überspielen"

Gabi Dolff-Bonekämper im Gespräch mit Frank Meyer · 20.03.2013
Wie sollen Länder mit Denkmälern umgehen, die durch neue Grenzziehungen in andere nationale Räume geraten? Nach Einschätzung der Kunsthistorikerin Gabi Dolff-Bonekämper gehören Denkmäler zur Regionalgeschichte und sollten darum nicht nur gepflegt werden, wenn sie in das aktuelle Nationalschema passen.
Frank Meyer: Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden Millionen von Menschen vertrieben und umgesiedelt, Ländergrenzen wurden verschoben, und dadurch sind viele Kulturdenkmäler in ganz neue Kontexte geraten. Polen ist ein besonders markantes Beispiel dafür: Das ganze Land wurde weit nach Westen verschoben. Wie ist man dort und anderswo umgegangen mit Denkmälern, die in eine neue Nation und Kultur geraten sind? Das ist ein Thema beim heute beginnenden deutschen Kunsthistorikertag im Greifswald. Gabi Dolff-Bonekämper ist Professorin für Denkmalpflege an der technischen Universität Berlin, und sie hat sich mit genau diesem Thema auseinandergesetzt. Seien Sie herzlich willkommen!

Gabi Dolff-Bonekämper: Hallo!

Meyer: Ein sehr beeindruckendes Beispiel dafür ist ja die Stadt Danzig, das war eine jahrhundertelang mehrheitlich von Deutschen besiedelte Stadt. Nach 1945 liegt sie nun in Polen, wird praktisch neu besiedelt, und das von vielen Polen, die ihrerseits vertrieben wurden aus ihrer Heimat in Ostpolen oder Zentralpolen. Und die bauen nun diese deutsche Stadt, diese zerstörte deutsche Stadt, wieder auf, mit ihrer ganzen Altstadt, mit diesem ganzen deutschen Kulturerbe. Wie kann man sich das eigentlich erklären?

Dolff-Bonekämper: Na ja, wenn man an einen Ort kommt, wo eine Stadt war, die da nicht mehr ist, und man soll jetzt dort leben, dann ist ja die Frage, wo will man seine Heimat finden, will man etwas komplett Neues bauen – auch diese Möglichkeit gibt es ja –, oder bezieht man sich auf die alte Topografie und die alte Geschichte und die alten Geschichten, und natürlich auch auf die schon durchaus noch im Ort vorhandenen Ruinen und Reste dessen, was mal dort war. Danzig war ja eine unglaublich berühmte Stadt, und auch in der Zeit vor dem territorialen Verschwinden von Polen, also den diversen polnischen Teilungen, haben auch immer Polen Danzig gekannt und mit bewohnt und mit belebt. Insofern war die Stadt nicht auf einem fernen Stern, sondern die war durchaus ja auch den neuen polnischen Siedlern nicht unbekannt.

Meyer: Aber hat da keine Rolle gespielt, dass man Danzig als deutsche Stadt identifiziert hat und die Deutschen ja eben bekanntlich Furchtbares angerichtet haben in Polen?

Dolff-Bonekämper: Doch, natürlich hat es eine Rolle gespielt, es gab ja auch lange Debatten, es gab auch um die Marienburg eine lange Debatte, ob man dieses deutsche Denkmal der deutschen Ritter des Mittelalters und der NS-Zeit, ob man das wieder aufbaut als polnische Nation. Aber man kommt in ein Land, man übernimmt das Land und übernimmt natürlich auch dessen Kulturgeschichte und findet nicht eine unbewohnte Kolonie vor. Insoweit ist dann der Glanz und die alte Schönheit von Danzig natürlich ein attraktives Gut.

Meyer: Ich habe schon gesagt, Polen wurde nach Westen verschoben, das hieß natürlich auch, viele frühere polnische Gebiete lagen jetzt auf einmal in Weißrussland oder in der Ukraine oder in anderen Ländern. Wie ist man denn dort mit dem polnischen Kulturerbe umgegangen?

Dolff-Bonekämper: Gar nicht. Man hat es aufgebraucht – das ist jedenfalls das, was ich von den polnischen Kollegen höre, was ich auch in den Publikationen der polnischen Kollegen lese, die sich seit dem Ende der Sowjetherrschaft in diesem Gebiet wieder bewegen können und entdeckt haben, was übrig geblieben ist, und was eventuell noch reparabel wäre, und die auch eigenes polnisches Kapital investieren in die Instandsetzung von ehemals polnischen Denkmalen im jetzigen Weißrussland und in der Ukraine.

Meyer: Wenn wir noch ein Stück weiter zurückschauen ins 19. Jahrhundert: 1871 hat ja das Deutsche Reich Teile von Ostfrankreich annektiert, wie sah der deutsche Umgang aus mit dem französischen Kulturerbe?

Dolff-Bonekämper: Na, diese Gebiete, vor allen Dingen das Elsass, hatten ja vorher zum Deutschen Reich gehört und sind erst seit 1666 dem französischen Königreich zugeschlagen worden. Und insofern gab es diese einfache Methode, zu erklären, das Elsass ist deutsch, Punkt. Und insofern war auch das, was man dort vorfindet, als Kulturerbe automatisch gleich deutsch, so wie die Straßburger Kathedrale und auch die Straßburger Fachwerkhäuser, die sind im Übrigen oberrheinisch. Und da zu entscheiden, ob die jetzt deutsch sind oder französisch, ist eigentlich ganz überflüssig.

Meyer: Wäre das auch ein Weg für einen künftigen Umgang mit solchen Denkmälern, die an sich verschiebenden kulturellen, nationalen Grenzen liegen, dass man die eher – wie Sie jetzt sagen, oberrheinisch – dass man die eher einer Region zuordnet und keiner Nation?

Dolff-Bonekämper: Das ist ein natürlich inzwischen sehr üblicher Weg, zu regionalisieren, um das Nationale zu überspielen. Das hat man auch schon nach 45 in Deutschland gemacht, lieber von Kulturlandschaft oder Kunstlandschaft gesprochen als von Nation, weil der Begriff nicht gut nutzbar war, jedenfalls nicht in der deutschen Kunstgeschichte. Ich denke, das sind Kulturregionen, die in der Tat miteinander verwandt sind und nah aneinander liegen, egal, ob dazwischen eine Staatsgrenze oder keine Staatsgrenze liegt. Das ist eine Herangehensweise, aber man darf sich nicht einbilden, dass, wenn man dann vom Oberrhein reden würde, dass das die nationalen Gegensätze erledigt ein für allemal. Es gibt immer noch die nationalen Grenzen, die sind politisch wirksam, die sind historisch und rückwirkend wirksam, absurderweise, und bleiben immer noch weiter bestehen. Man kann einen anderen Diskurs daneben stellen, das wird auch geschehen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden mit Gabi Dolff-Bonekämper, Professorin für Denkmalpflege in Berlin, und wir reden über Denkmäler, die durch neue Grenzziehung in andere nationale oder kulturelle Räume geraten. Und ich würde noch ein Beispiel aus der Gegenwart gerne ansprechen, das ich sehr interessant finde. In Berlin gibt es ja drei sowjetische Ehrenmale, das sind ja im Prinzip sowjetische oder heute russische Denkmäler auf deutschem Boden. Wie sehen Sie das, wie geht die deutsche Seite damit um, mit diesen russischen Denkmälern?

Dolff-Bonekämper: Da gibt es zunächst die Regel, nämlich den Zwei-plus-Vier-Vertrag nach der Wende abgeschlossen, dass das ja Friedhöfe sind, und dass diese Friedhöfe – das sind Soldatenfriedhöfe, als Ehrenmale gestaltet – unberührt bleiben müssen und gepflegt werden sollen. Dazu ist der Senat von Berlin verpflichtet und das macht er auch. Dann schließt sich die Frage an, wie man eigentlich die Sowjetarmee in Bezug auf das Ende des Zweiten Weltkrieges bewerten möchte, ob man nun mit der DDR-Lesart die sowjetische Armee als Befreier bezeichnet, was sie ja irgendwie auch war, oder mit dem westlichen Diskurs aus Besatzer und Besetzer, was sie auch war. Und damit entscheidet sich natürlich auch gleich, mit was für Gefühlen man diese sowjetischen Ehrenmale im heutigen Berlin eigentlich willkommen heißen möchte. Sie sind aber da, und nachdem das Ende des Zweiten Weltkriegs in der Tat durch die Rote Armee hier in dieser Gegend erfochten wurde, steht es, glaube ich, niemandem an, zu sagen, diese Soldatenfriedhöfe sollen hier weg.

Meyer: Ja, sie werden gepflegt, das sieht man auch im Stadtbild, aber wenn ich mir die öffentliche Wahrnehmung anschaue oder zum Beispiel die Frage stelle, gehen da Berliner Politiker hin, gehen da Bundespolitiker hin, zum Beispiel zum Jahrestag des Kriegsendes, um die sowjetischen Soldaten zu würdigen, würde ich sagen, die lassen sich da nicht sehen. Also ist das nicht auch eine Form öffentlicher Missachtung dieser Denkmäler?

Dolff-Bonekämper: Missachtung würde ich nicht sagen, sie ziehen andere Orte vor, und das ist natürlich auch eine Frage des Staatsprotokolls, an welchem Ort man welcher Ereignisse gedenken möchte. Nicht aus Versehen ist ja seit 1993 in Berlin-Mitte unter den Linden die Neue Wache für solche Zwecke ausgerüstet als nationale Gedenkstätte.

Meyer: Und als neutraler Erinnerungsort.

Dolff-Bonekämper: Neutral würde ich das nicht nennen, weil den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft, so, wie es jetzt gewidmet ist, sagt natürlich nichts konkret politisches über die deutsche Geschichte und die Geschichte der Kriege des 20. Jahrhunderts, aber neutral ist sie schon allein aufgrund ihrer Vorgeschichte – ein Bau von Schinkel zur Feier der Befreiungskriege von 1815 – auf keinen Fall.

Meyer: Wir haben jetzt verschiedene Beispiele angesprochen solcher Denkmäler, die in neue Kontexte geraten. Sie werden jetzt auf dem deutschen Kunsthistorikertag über solche Beispiele diskutieren, und Sie werden dort, wie es in Ihrer Einladung heißt, sie schlagen vor, versuchsweise auf die Kategorie des Nationalen zu verzichten und stattdessen an der Konstituierung von offenen Kulturerbengemeinschaften zu arbeiten. Was würde das denn praktisch bedeuten, für den künftigen Umgang mit solchen Denkmälern?

Dolff-Bonekämper: Es geht eigentlich vor allen Dingen um den – wie ich es nennen würde – semantischen Status, das heißt: Was bedeutet das Denkmal für wen? Und für wen ist es wichtig? So, eine Kulturerbengemeinschaft ist ein Begriff, den man verwenden kann, wenn man sagt, alle die, die es wichtig finden, gemeinsam, egal, wo sie selbst leben, welcher Nation sie angehören, in welchem Land sie leben, nah oder fern, alle die, die ein Interesse haben am Gegenstand, am Objekt, vereinen sich durch dieses Interesse zu einer Kulturerbengemeinschaft, und dabei ist es völlig egal, wo sie ansässig sind, und was ihre Herkunft ist. Das ist aber nur, um den Erbestatus des Objektes näher zu beschreiben und auch die Frage der Deutung und Aneignung und Interpretation. Die Zuständigkeit für die Erhaltung – das heißt, wer repariert notfalls die Dachrinne oder wer deckt ein Dach neu oder wer legt ein Pflaster neu –, da wird es nicht anders gehen als bisher, ganz und gar traditionell zuständig ist die zuständige Behörde. Und zuständig ist der zuständige Staat und die Gemeinde. Das heißt, die Erhaltungspflicht bleibt weiterhin im lokalen, regionalen oder nationalen Rahmen stehen, aber die Deutungsmöglichkeit und die Aneignungsmöglichkeit im Sinne eines geteilten und gemeinsamen Kulturguts, die möchten wir gerne eröffnen.

Meyer: Das hieße ja auch, auf Ansprüche zu verzichten vielleicht, auf nationale Ansprüche, das ist unser deutsches Denkmal oder das ist unser polnisches Denkmal. Meinen Sie, da ist man schon so weit?

Dolff-Bonekämper: Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass man so weit ist, weil es natürlich eine sehr persönliche Entscheidung eines jeden ist, und da gäbe es vielleicht Personengruppen, denen es schwerer fiele zu sagen, das ist jetzt polnisch, das wären vielleicht die Nachfahren von früher dort ansässig gewesenen Familien, die würden es vielleicht schwerer finden, zu sagen, das ist jetzt nicht mehr unseres, aber die Idee des gemeinsamen Erbes haben die Polen in einem wunderbaren Begriff formuliert, den ich gerne zitieren möchte, von der Treuhänderschaft für das Aufbewahren von deutschem Kulturerbe, so lange wie es da noch steht und sie sich als vorübergehend zuständig empfunden haben, möchten sie jetzt weitergehen zu einer Interpretationsfigur, die nennen sie Miterbenschaft. Und diese Miterbenschaft – ich finde, es ist ein guter Begriff – macht deutlich, dass es eigentlich mal ein deutsches Kulturerbe war, und dass die polnischen Bürger, die dort jetzt ansässig sind und auch zuständig, und es auch als ihres mitbetrachten, die Miterben sind. Und das ist eigentlich, denke ich, die Eröffnung zu dieser offenen Kulturerbengemeinschaft.

Meyer: Also wir sollten zu einer Miterbenschaft kommen – darüber wird diskutiert beim Deutschen Kunsthistorikertag in Greifswald, der heute beginnt. Mit dabei ist Gabi Dolff-Bonekämper, Professorin für Denkmalpflege in Berlin. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Dolff-Bonekämper: Bitte sehr!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.