Regeln für den Homo sapiens

01.08.2013
Dieser Band versammelt 21 Aufsätze des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, viele davon liegen nun zum ersten Mal auf Deutsch vor. Der Autor verblüfft mit originellen Überlegungen zu römischem Recht, Ordensregeln im Kloster, bildender Kunst und Philosophiegeschichte.
Seit mehreren Jahrzehnten arbeitet der in Venedig lehrende Giorgio Agamben an seinem "Homo sacer"-Projekt. Als Ergebnisse dieser Arbeit hat er mit "Die souveräne Macht und das nackte Leben" (2002), "Was von Auschwitz bleibt" (2003), "Das Sakrament und die Sprache" (2010) und mit "Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform" (2012) international beachtete Bücher vorgelegt. Agambens Interesse gilt dem homo sapiens und den auf Regeln basierenden Handlungen, die dessen Leben garantieren oder bedrohen. Dabei richtet sich seine Aufmerksamkeit ebenso auf das Kloster wie auf die Vernichtungslager. Im Lager herrschen durch den Ausnahmezustand Regeln, die ein normales Leben unmöglich machen, während sich der Mönch im Kloster freiwillig bestimmten Regeln unterwirft.

Neben seinen Büchern hat Agamben in den letzten 20 Jahren wissenschaftliche Arbeiten und Essays verfasst, die 2005 in italienischer Sprache erschienen sind, und die nun auf Deutsch vorliegen. 14 der insgesamt 21 Aufsätze können erstmals in einer deutschen Übersetzung gelesen werden. Das Buch, das sich in die Kapitel Sprache, Geschichte und Vermögen gliedert, setzt sich unter anderem mit Walter Benjamins Sprachphilosophie, Aby Warburgs namenloser Wissenschaft und Martin Heideggers Nazismus auseinander. Gern hätte man auch gewusst, wann und wo die Texte veröffentlicht worden sind, aber diese Angaben sucht man vergeblich.

Die von Agamben verhandelten Themen genießen seit Jahren die Aufmerksamkeit der Forschung. Anregend und zu einer intellektuellen Herausforderung werden sie durch Agambens Können, ein Thema von einem überraschenden Ausgangspunkt aus zu entwickeln. Dabei verblüfft seine Souveränität im Umgang mit dem römischen Recht, den Ordensregeln der Klöster, der Literatur, der bildenden Kunst und der Philosophiegeschichte.

In dem Aufsatz "Das Ich, das Auge, die Stimme" schlägt Agamben einen kühnen Bogen von Descartes "Dioptrik" bis zu Paul Valerys "Monsieur Teste". In Descartes Überlegungen steht ein bärtiger Mann im Zentrum, der nicht nur durch seine Augen, sondern durch ein zweites Auge sieht, welches wie ein Fenster in eine Wand eingelassen worden ist. Descartes führt das Experiment an, um zu beweisen, dass dieser Mann zu sehen denkt. Valerys "Teste" wiederholt Jahrhunderte später die cartesianische Formulierung: "Ich bin sehend und mich sehend; ich sehe, wie ich mich sehe, und so fort..." Teste ist, wenn man seinen Namen auf testis, den Zeugen zurückführt – was Agamben macht –, ebenso ein Beobachter wie Descartes bärtiger Mann.

Als sehendes und sich sehendes Ich konstituiert sich das Subjekt über den Blick. Aber eben nicht nur, denn es sieht sich nicht nur, sondern es spricht auch, wenn es ich sagt. Mit der Stimme kommt der Exkurs, der vom Sehen ausging, zur Sprache und damit zu einem zentralen Themenbereich Agambens. Intensiv betrachtet er das Wort und er fragt nach dessen Bedeutung. Die Kunst der Befragung beherrscht Agamben meisterhaft.

Besprochen von Michael Opitz

Giorgio Agamben: Die Macht des Denkens
Gesammelte Essays
Aus dem Italienischen von Francesca Raimondi
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
463 Seiten, 24,99 Euro
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