Reformen eines Diktators auf Zeit

Von Anne Françoise Weber · 01.12.2012
In Ägypten wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Nach Meinung von Anne Françoise Weber tritt Präsident Mohammed Mursi dabei auf wie ein Diktator. Verfassungsartikel, die Beleidigung von Individuen, Blasphemie und Beschimpfung von Propheten verbieten, lassen um die Meinungsfreiheit fürchten.
"Wir lernen zu debattieren." Das sagte der ägyptische Präsident Mohammed Mursi in einem Interview mit dem amerikanischen Wochenmagazin "Time" am Donnerstag. Einen Tag später bereits zeigte sich, wie die Debatte in Mursis Ägypten funktioniert: In einem 20-stündigen Par-Force-Ritt verabschiedeten die verbleibenden Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung eine neue Verfassung für Ägypten - ohne Debatte und vor allem ohne die Beteiligung von Kirchenvertretern und Repräsentanten säkularer und liberaler Strömungen.

Sie alle hatten sich aus der Versammlung in den vergangenen Wochen zurückgezogen, weil sie ihre Positionen gegenüber der Mehrheit von Muslimbrüdern und Salafisten nicht durchsetzen konnten. In der jetzt verabschiedeten Verfassung, über die noch ein Referendum abgehalten werden soll, handelt dementsprechend kein Artikel explizit von der Gleichheit zwischen Männern und Frauen, dafür werden Frauen als die "Schwestern der Männer" bezeichnet und Familienwerte verankert. Die Gelehrten der al-Azhar-Universität werden als Autorität in Glaubensfragen eingesetzt. Christen und Juden erhalten zwar die Erlaubnis, ihre Religion zu praktizieren, Angehörige anderer Religionen wie die Bahai aber haben keinerlei Rechte. Auch nicht-sunnitische Muslime können aufgrund bestimmter Formulierungen diskriminiert werden.

Verfassungsartikel, die Beleidigung von Individuen, Blasphemie und Beschimpfung von Propheten verbieten, lassen um die Meinungsfreiheit fürchten. Journalisten sehen die Pressefreiheit gefährdet, mehrere Zeitungen und Privatsender haben bereits angekündigt, am kommenden Dienstag aus Protest nicht zu arbeiten. Die meisten Juristen sind mit dem Zustandekommen der neuen Verfassung sowieso nicht einverstanden - möglicherweise wird das Verfassungsgericht die verfassungsgebende Versammlung noch für ungültig erklären.

Dagegen sind die Festlegung der maximalen Amtszeit des Präsidenten auf acht Jahre, die Garantien für Versammlungs- und Bewegungsfreiheit und ein Artikel zu den Rechten Gefangener nur ein schwacher Trost. Immerhin konnten die Salafisten keinen noch stärkeren Bezug auf die Scharia als Gesetzesgrundlage durchsetzen, es gilt weiterhin die Formulierung aus Mubaraks Zeiten.

Es bleibt aber vor allem dabei, dass diese Verfassung, selbst wenn sie im Referendum von einer Mehrheit der Bevölkerung befürwortet werden sollte, ohne Mitwirkung entscheidender gesellschaftlicher Gruppen entstand - und gerade diejenigen, die besonders auf staatlichen Schutz angewiesen wären, übergangen werden.

"Wir lernen frei zu sein." Auch das sagte Mohammed Mursi im Interview mit der "Time". Eine interessante Art der Freiheit, beschloss er doch vergangene Woche, die Gewaltenteilung in Ägypten vorübergehend ganz aufzuheben und seine eigenen Dekrete ebenso wie die verfassungsgebende Versammlung und die zweite Kammer, den Schura-Rat, sämtlichen Urteilen der Justiz zu entziehen. Im gleichen Zug entließ er den Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud - eine alte Forderung der Revolutionäre vom Tahrir-Platz. Zudem ordnete er an, die Prozesse wegen der Tötung von Demonstranten während der Revolution neu aufzurollen - die Urteile waren all zu milde ausgefallen.

Tatsächlich sitzen im Justizapparat noch zahlreiche Vertreter der Mubarak-Ära, die kein Interesse an einem wirklichen Wandel im Land haben, Mursis Reformen blockieren und ihre eigenen Pfründe bewahren wollen. Hartes Durchgreifen war hier vielleicht nötig. Ob es allerdings dafür nötig war, sich zum "Diktator auf Zeit" zu machen, wie eine ägyptische Zeitung titelte, und in genau dieser Zeit mit der Verfassung die Grundlage für ein neues, stark islamisch geprägtes Ägypten zu legen, darf bezweifelt werden.

Mohammed Mursi hat sein Vorgehen damit gerechtfertigt, dass er die Revolution vollenden müsse. Das Herz der Revolution, der Kairoer Tahrir-Platz, füllte sich am gestrigen Freitag jedoch mit zehntausenden Menschen, die gegen Mursis Vorgehen demonstrierten. Angesichts seines Durchgreifens findet sogar die zersplitterte Opposition wieder zusammen. Vielleicht hat Mursi ja doch recht: Die Ägypter lernen zu debattieren und frei zu sein. Der Präsident hilft ihnen dabei allerdings höchstens, indem er Ängste vor einer neuen Diktatur weckt und die Menschen so mobilisiert.

Und sollte die Verfassung in der verabschiedeten Form nach einem Referendum geltendes Recht werden, dürfen es die Ägypter mit der Freiheit und dem Debattieren in Zukunft nicht zu weit treiben - Propheten, Familienwerte, öffentliche Ordnung und Moral jedenfalls stehen dann nicht mehr zur Debatte. Auch wenn der Präsident wie versprochen nach Einführung der Verfassung die Gewaltenteilung wiederherstellen und kein Diktator mehr sein sollte.

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