Reflexionen über Alltägliches

11.08.2005
Wislawa Szymborska setzt mit ihren neuen Gedichten in "Der Augenblick" die bereits erprobte Verbindung der großen Themen mit dem ganz Alltäglichen fort. Sie sind Reflexionen über das vermeintlich Selbstverständliche: Wie es Tag wird oder wie die Wolken ziehen. Meditationen angesichts von Pfützen, Pflanzen oder Hunden, Konversationen eines lyrischen Ichs mit der Menschheit als sprödem Gegenüber.
Wislawa Szymborska, Jahrgang 1923, gehört zu einer Generation, die viele große Lyriker in Polen hervorgebracht hat. Zwei von ihnen haben den Nobelpreis bekommen: Czeslaw Milosz und sie selbst. In ihrer Nobelpreis-Rede 1996 sprach sie von der Notwendigkeit des Nichtwissens und des grundlosen Staunens, eines "autonomen Staunens", wie sie sagte, das keine Norm braucht, von der es abweichen müsste.

Szymborskas prinzipielles Staunen besteht darin, nichts, was zu sehen, zu spüren und zu benennen ist, in der Ruhe des Gewohnten zu belassen. Ihr poetologisches Handwerkszeug ist zunächst einmal Skepsis gegenüber aller Wahrnehmung, dann Empathie mit dem Wahrgenommenen und schließlich eine ironische Wortwahl, die es ihren Lesern nicht gestatten will, sich die Welt wieder so zusammenzusetzen, wie sie es gewohnt sind.

Diese Denk- und Schreibhaltungen hat sie im Lauf der Jahrzehnte, in denen sie von der jungen braven Parteidichterin, die Loblieder auf Stalin dichtete, zur luziden Kritikerin an Kultur und Gesellschaft wurde, immer mehr vervollkommnet.

In ihren neuesten Gedichten setzt sie die bereits erprobte Engführung der großen Themen mit dem ganz Alltäglichen fort. Sie sind Reflexionen über das vermeintlich Selbstverständliche: wie es Tag wird oder wie die Wolken ziehen, Meditationen angesichts von Pfützen, Pflanzen oder Hunden, Konversationen eines lyrischen Ichs mit der Menschheit als sprödem Gegenüber.

Das Gedicht "Verzeichnis" zum Beispiel listet Fragen auf, "deren Beantwortung ich nicht mehr erleben werde": Fragen nach Leben und Tod. Sie kommen daher im Gewand beinahe schlichter Überlegungen: Welcher Ringfinger trägt jetzt wohl einen gestohlenen Ring oder "Was wollte M. mir sagen/als sie nicht mehr sprechen konnte".

Diese ganze mit verblüffender Beiläufigkeit gesammelte, aber mit exakt gesetzten Akzenten inszenierte Liste von Fragen endet mit der Andeutung einer mysteriösen Antwort, die vielleicht, vielleicht im Fragmentarischen und Unverständlichen liegen könnte. Aber: "Auch das ist eine Frage/die mich irgendwann verlässt."

Wislawa Szymborskas Meisterschaft liegt in der gewollten Missachtung der Nuancen sprachlicher Hierarchie. Durch das Einfügen eines Wortes an einer unerwarteten Stelle, wodurch jede Gewissheit zu Fall kommt und die Sprache das unendliche Nichtwissen bereits eingesteht, während das lyrische Ich vordergründig um Antwort bemüht ist. Es wird jedoch immer eine Nicht-Antwort sein, mit der Szymborska ihre Leser entlässt. Und die kann manchmal auch sehr scharf und sehr ironisch ausfallen.

Wislawa Szymborska, Der Augenblick/Chwila. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius. Bibliothek Suhrkamp. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005. 106 S., 11,90 Euro