Rechtsruck? Ach was.

Von Cora Stephan · 07.10.2009
Man kann sie alle beruhigen, die nun zittern – da ja doch "die Rechte" die Wahl gewonnen habe. Aber woher denn. Angela Merkel hat die Wahl gewonnen, jene Frau, die es geschafft hat, die Christdemokratische Partei Deutschlands in eine aus tiefstem Herzen sozialdemokratische Kraft umzuformen.
Mit ihr an der Spitze wird all das Schreckliche nicht eintreten, was insbesondere die gutwilligen und künstlerisch schaffenden Kreise der Republik befürchten: "eine absolute Katastrophe für Bildung, Umwelt und Frieden", soziale Kälte, verschärfte Armut und neoliberales Teufelszeugs wie Studiengebühren und ein bisschen mehr Selbstverantwortung der Bürger.

Keine Sorge: Angela Merkel hat ihre Lektion gelernt. Nicht, weil sie dem realsozialistischen Paradies auch nur eine Träne nachweinte oder ihren Grundkurs in Marxismus-Leninismus nicht vergessen könnte. Nein: weil sie Realistin ist. Und die muss zur Kenntnis nehmen, dass der Geist in dieser Republik nun mal irgendwie links steht und weht.

Eben. Und so werden andere in der künftigen Regierungskoalition jene Farben abdecken müssen, die in der CDU nicht mehr geflaggt werden: Guido Westerwelle wird den konservativen Ordnungspolitiker geben, der er nicht ist, und zu Guttenberg ist zum Liberalsein verpflichtet, im Falle Opel hat er ja schon mal geübt.

Rechtsruck? Ach was. Das derzeitige Farbenspiel ist völlig quer und zugleich ganz und gar konsequent. Der politische Mythos und die entsprechende Begrifflichkeit in diesem Land sind heute mehr denn je von linken Gleichheits- und Umverteilungsvorstellungen geprägt – und von einem Grundton, der in jedem Bürger den zuwendungsbedürftigen, armen oder doch wenigstens von Armut bedrohten Empfänger staatlicher Leistungen sieht. Der kleine Rest der deutschen Welt sind die Reichen, denen man nehmen muss, damit man geben kann.

Dieser Weltsicht kommt man weder mit Verweis auf die Realität noch mit Ideologiekritik bei. Denn sie entspricht der Wirklichkeit und den materiellen Interessen nicht aller, aber eines großen Teils der Bevölkerung, all jener nämlich, die in der einen oder anderen Weise vom Staat abhängig sind, und das sind nicht nur die Armen, das ist ein durchaus buntscheckiger Haufen: Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst, Menschen, die von Hartz IV leben, Rentner und Pensionäre, Bezieher von Mutter- und Kindergeld, Parteifunktionäre und so weiter und so fort. Und diese Empfänger von Transfereinkommen, von Geld also, das der Staat anderswo eingesammelt hat, stellen mittlerweile auch die Wählermehrheit.

Eine Partei wie die CDU, die Mehrheiten erzielen will, hat diese Interessen zu berücksichtigen – auch wenn sie damit ihr Profil und ihren Besitzstand gefährdet. Und deshalb haben wir eine sozialdemokratisierende Kanzlerin, die nicht mehr durchregieren, sondern soziale Wärme verbreiten will.

Nur eine Minderheit steht alleingelassen im Wind: die schrumpfende Gruppe all jener, die zum Produktivvermögen der Republik beitragen und mit ihren Steuern die staatliche Umverteilung erst ermöglichen. Sie sind schon seit Jahrzehnten die großen Unbekannten Deutschlands, graue Gestalten, misstrauisch beäugt von allen berufenen Sachwaltern der sozialen Gerechtigkeit, schwer identifizierbar und kaum benennbar.

"Die Besserverdienenden"? Damit hat sich die FDP mal einen schweren Karriereknick eingehandelt, und zwar leider nicht deshalb, weil diese Bezeichnung gar nicht zutrifft. "Leistungsträger"? Erweckt entschieden weniger solidaritätsbereite Emotionen als "Hartz-IV-Empfänger". "Mittelschicht"? Ist erst salonfähig, seit man vom drohenden Abstieg derselben weiß.

Nein, die großen Unbekannten sind Menschen wie du und ich, nicht arm, nicht reich, denen ihre Arbeit Spaß macht und die manchmal sogar verschämt zugeben, dass sie etwas leisten und etwas erreichen möchten und dass sie es schön finden, das Bruttosozialprodukt zu mehren. Zumal es ihr soziales Gewissen befriedigt, dass ihre Steuern allen helfen, die Hilfe benötigen. Nennen wir sie, die Produktiven, doch einfach – die Arbeiterklasse. Und diese sonst so Geduldigen können nur eins nicht leiden: wenn sie sich als ausgebeutete Minderheit fühlen müssen. Völker, hört die Signale!


Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".