Rechtsphilosoph: Gefahrenprognose bei Straftätern durch Hirnscans möglich

Moderation: Katrin Heise · 29.02.2012
Neurobiologische Untersuchungen seien zwar ungeeignet, "über Schuld und Unschuld eines Angeklagten" Auskunft zu geben, meint der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Sie könnten aber zeigen, "ob jemand gefährlich ist und verwahrt werden muss" - zum Beispiel im Fall von Kindesmissbrauch.
Katrin Heise: Welche strafrechtlichen Folgen kann der Blick ins Gehirn haben? Wissenschaftler meinen, durch bildgebende Verfahren immer mehr im Hirn eines Menschen ablesen und auf sein Verhalten rückschließen zu können. Wo wir auf diesen Weg stehen, das bespreche ich jetzt mit dem Professor Reinhard Merkel, er ist Rechtsphilosoph an der Universität Hamburg. Schönen guten Tag, Herr Merkel!

Reinhard Merkel: Guten Morgen!

Heise: Kritiker warnen vor der Suggestivkraft bunter Bilder vom menschlichen Gehirn. Herr Merkel, hören wir zu Anfang unseres Gesprächs mal die Bedenken, die am Montag der Freiburger Medizinhistoriker und -ethiker Giovanni Maio im Deutschlandradio Kultur äußerte:

O-Ton Giovanni Maio: Wir müssen das Gehirn als ein Beziehungsorgan betrachten, als ein Organ, das eben nur in der Beziehung nach außen irgendetwas leistet, und der Mensch dann dennoch seine Freiheit hat. Ich denke, es ist ein Reduktionismus, wenn wir meinen, anhand von Hirnbildern etwas über den Menschen aussagen zu können. Weil ... Auch das, was im sich Gehirn sich abspielt, ist Resultat der Erfahrungen, Resultat dessen, was der Mensch empfunden hat. Und er wird auch aus dem, was das Gehirn hier zeigt, auch nicht uniform handeln, sondern jeder Mensch wird dann daraus auch seine eigene Handlungsweise ableiten.

Heise: Befürchtungen des Freiburger Medizinethikers Giovanni Maio. Herr Merkel, was sagen Sie als Rechtsphilosoph dazu, zu diesen Bedenken?

Merkel: Nun, es gibt bestimmte Befürchtungen, die auch Grundlagen haben. Dafür gibt es Gründe, dazu werde ich gleich noch ein Wort sagen. Aber der Umstand, dass das Gehirn ein Beziehungsorgan ist, wie Herr Maio eben sagt, der ja im wagen Sinne sozusagen richtig ist, besagt natürlich nichts darüber, ob die Einsichten, die wir in das Funktionieren eines Gehirns in all seinen Beziehungen zur Außenwelt gewinnen können, nicht für vielerlei Dinge hoch bedeutsam sind.

Heise: Wenn man sie nicht alleine nimmt.

Merkel: Wenn man sie nicht alleine nimmt. Aber wissen Sie, das gibt ... Alle diese Dinge, alle diese Beziehungen, die ein Funktionieren eines individuellen Gehirns konstituieren, ändern nichts daran, dass das Gehirn am Ende auf eine bestimmte Weise funktioniert. Also, was Herr Maio sagt, ist sozusagen nicht relevant für unser Thema, jedenfalls nicht, was er mit dem Beziehungsorgan meint. Wichtiger ist zu sagen, man darf sich nicht täuschen über die Aussagekraft solcher sogenannten Brainscans. Das erfordert heute noch eine hoch qualifizierte Expertise, diese Dinge richtig zu lesen und sozusagen täuschungsfrei wahrnehmen zu können. Das können Richter in Strafverfahren heute ganz bestimmt noch nicht. Und die Suggestivkraft dieser sogenannten bunten Bilder von Gehirnen, die muss man natürlich in Anschlag bringen, die muss man bedenken.

Heise: Also, wenn ich Sie richtig verstehe, stehen wir eben ganz am Anfang. Und trotzdem, Ihrer Meinung nach, spricht sehr viel für Nachweismethoden, nenne ich es jetzt mal, im Gehirn?

Merkel: Ja, es spricht sehr viel dafür in verschiedener Hinsicht. Wenn ich mal von den juristischen Verfahren, zu denen ich gleich noch ein Wort sagen will, absehe: Bestimmte Therapien, die sich entwickeln mögen, können sich nur entwickeln, wenn wir verstehen, was sozusagen als neuroanatomische Grundlage für bestimmte psychische Defekte vorhanden ist. Nehmen Sie den Gegenstand der Forscher aus Kiel, nämlich die Pädophilie: Das gilt heute jedenfalls in der normalen Psychologie und Psychotherapie nicht als therapierbar. Das ist aber ein hoffnungsvoller und vielversprechender Ansatz zu sagen: Wenn wir die neurobiologischen Grundlagen dafür verstehen, dann können wir vielleicht mit therapeutischen Maßnahmen irgendwann mal im Gehirn ansetzen. Das ist der erste Grund, warum solche Forschungen extrem wichtig und positiv zu beurteilen sind.

Das andere sind die rechtlichen Verfahren, in die diese Forschungen kommen mögen. Und ich würde zwei Verfahren im Strafrecht unterscheiden: Das Hauptverfahren in einem Prozess, wo es um Schuld oder Unschuld eines Angeklagten geht, und dann die Verfahren um die sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung, also zur Prognose, ob jemand gefährlich ist und deswegen verwahrt werden muss etwa in Sicherungsverwahrung. Wenn wir da ...

Heise: ... da setzen Sie Ihre besonderen Hoffnungen hinein, dass es dort dann differenziertere Beurteilungen gibt?

Merkel: Jedenfalls eine breitere Basis der Beurteilung. Das ist heute ausschließlich der klassischen Psychiatrie und Psychologie. Und wir wissen und alle, auch die kompetentesten Psychiater, wissen das, dass es eine große Menge falscher positiver Legalprognosen, also falscher Gefahrprognosen bei solchen Probanden gibt, die dann hinterher wegen der Prognose verwahrt werden für etwas, was sie nicht getan haben, weggeschlossen werden. Und das ist nun rechtsstaatlich betrachtet ein großes Elend. Wenn man also die Erkenntnisbasis für solche Prognosen erweitern kann, dann sollte man das unbedingt. Meine Prognose für die Entwicklung dieser Dinge ist: Wir werden in den nächsten zehn Jahren das Eindringen dieser Brainscan-Verfahren in rechtliche Verfahren erleben. Und ich beurteile das prinzipiell positiv mit dem Hinweis darauf, dass das vorsichtig und nur mit einer hohen qualifizierten Expertise gelesen werden kann.

Heise: Darauf möchte ich gerne noch mal genauer eingehen: Es klingt für mich so ein bisschen, als glaube man dem Bild vom Hirn wie einer DNA-Analyse. Also, Bilder vom Hirn bedürfen aber der Interpretation. Sind sie denn annähernd so valide, so belastbar im Nachweis wie beispielsweise die DNA-Analyse?

Merkel: Nein, es ist keine direkte Beobachtung eines Gehirns beim Arbeiten sozusagen, was da geschieht, sondern das ist vielfach vermittelt, das sind computergenerierte Bilder. Man sieht also nicht einfach dem Funktionieren des Gehirns zu. Gleichwohl können die Experten Rückschlüsse ziehen aus dem, was diese Bilder vermitteln. Und wenn wir die Kieler Studie, die Sie am Anfang erwähnt haben, nehmen: Es gibt keinerlei Anlass zu zweifeln, dass die valide Ergebnisse vorgelegt haben. Das ist vielfach jetzt überprüft worden, dieser Artikel, und die reden davon, dass sie mit einer Akkuratheit von weit über 90 Prozent klären können, ob jemand, der eine sexuelle Attacke auf ein Kind gemacht hat, pädophil ist oder nicht. Nicht alle Leute, die so was tun, sind Pädophile, also, mit der entsprechenden Neigung sozusagen ausgestattet. Das kann man ersichtlich mit einer hohen Akkuratheit durch dieses Verfahren klären.

Heise: Wobei die Kieler Wissenschaftler darauf bestehen, dass ihr Verfahren erst mal nur in der Prävention angewendet werden soll, nämlich in freiwilliger ... also Männer, die etwas in sich spüren, freiwillig sich diesem Brainscan unterziehen und dann eventuell eine Therapie eingeleitet werden kann. Ich spreche mit dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel von der Universität Hamburg im Deutschlandradio Kultur. Herr Merkel, Sie haben eben gesagt, Sie glauben, in zehn Jahren, in den nächsten zehn Jahren findet der Brainscan Eingang in gerichtliche Verfahren. Wie weit ist man denn international in der Anwendung von Brainscans in diesen strafrechtlichen Zusammenhängen?

Merkel: In Amerika sind Brainscans in Strafverfahren selbst mehrfach verwendet worden. Es ist nicht so, dass die Staatsanwaltschaft ...

Heise: ... jetzt schon verwendet worden?

Merkel: Ja, ja, über 20 Fälle sind inzwischen dokumentiert. Es ist nicht so, dass die Staatsanwaltschaften das machen würden. Die wissen ganz genau, dass das für einen Schuldbeweis nicht ausreicht, einen Brainscan von einem Angeklagten vorzulegen. Das versuchen die Verteidiger. Und die Verteidiger müssen nichts beweisen für ihre Angeklagten, die müssen die Überzeugung des Gerichts, dass sie einen schuldigen Angeklagten vor sich haben, nur erschüttern. Und dafür genügt jedes Indiz. Und auf dieser Schiene werden in die genuinen Strafverfahren solche hirnbiologischen Beobachtungsmethoden Eingang finden. Das ist vielfach problematisch noch, da bin ich eher skeptisch, da müssen wir sehr zurückhaltend sein und diese Methoden nicht vorschnell als geeignet ansehen, über Schuld und Unschuld eines Angeklagten irgendwelche Schlüsse zuzulassen.

Anders ist das bei den Verfahren über die Gefahrprognose. Sehen Sie, wenn der Staat Leute für etwas, was die nicht getan haben, festhält und gegebenenfalls deren Leben lang festhält, dann muss er, ist er verpflichtet, die Erkenntnisbasis so breit zu machen, wie es die Wissenschaften nur irgend erlauben. Deswegen ist das positiv zu beurteilen. Natürlich dürfen keine falschen Schlüsse gezogen werden, aber es gibt immer mehr Experten, die diese Verfahren beherrschen und die die Schlüsse ziehen können, die daraus zu schließen sind. Das sind keine strikten Beweise, das sind weitere Indizien neben den klassisch-psychiatrischen Indizien und wir sollten das begrüßen.

Heise: Einen Aspekt würde ich gerne aber noch ansprechen, nämlich die von mir schon erwähnte Freiwilligkeit. Bisher, in Deutschland, geht es um Freiwilligkeit, also, sich freiwillig einem solchen Brainscan zu unterziehen. Das Ablehnen eines solchen Scans, bedeutet oder kann das nicht dann aber demnächst schon bedeuten, sich quasi einer Vorverurteilung auszusetzen? Na, der hat doch was zu verbergen - in diesem Sinne?

Merkel: Das ist eine wichtige Frage. Das darf nicht der Fall sein. Wenn es um Beschuldigte im Verfahren geht oder um Häftlinge, deren Sicherungsverwahrung zur Entscheidung ansteht, dann muss man das Grundrecht dieser Personen natürlich schützen, nichts auszusagen über sich. Nun gibt es ein Problem, das ungeklärt ist in der Rechtswissenschaft: Der Körper eines Beschuldigten kann sehr wohl als Beweismittel gegen ihn eingesetzt werden und man mag jetzt naiv sagen, wir untersuchen ja nur sein Gehirn, das ist ein Teil des Körpers, so, wie Sie etwa Alkoholtests, Bluttests bei Verdächtigen machen können, um das festzustellen. Die können auch erzwungen werden.

Andererseits hat ein solcher Beschuldigter ein Recht darauf, dass seine mentale, seine seelische Sphäre bei ihm bleibt und abgeschottet bleibt. Und hier ist sozusagen das Untersuchen des Organs Gehirn zugleich ein Blick in seine Seele, wenn es auch nur um die charakterlichen Dispositionen etwa eines Pädophilen gehen mag. Diese Frage ist noch zu diskutieren und noch nicht geklärt, ob eigentlich der Schutz der mentalen Sphäre den Vorrang hat oder der freie Zugriff auf den Körper eines Beschuldigten.

Heise: Brainscans, Bilder vom Gehirn in strafrechtlichen Verfahren. Es gibt also noch sehr vieles zu regeln und mit Vorsicht zu behandeln. Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel war das, Herr Merkel, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Merkel: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Was meinen Sie? Sind Brainscans ein Fortschritt oder eine Gefahr? - Diskutieren Sie mit uns darüber auf der Facebook-Seite von Deutschlandradio Kultur.
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