Realpolitik und Moralpolitik

Von Josef Schmid · 28.05.2007
Als sich das Ende des östlichen Regimes schon abzeichnete, erschien dort eine geistreiche Karikatur: ein typischer Apparatschik hebt den Telefonhörer ab und sagt: "Bitte, verbinden Sie mich mit der Realität!"
Wenn die Stellung zur Realität, zu irrealem Wunschdenken und zu moralischen Prinzipien nicht Schicksal und Leben von Völkern bestimmen würde, könnte man es bei solchen Scherzen belassen. Doch wir sind aufgefordert, uns dem Gegensatz von Wunsch und Wirklichkeit zu stellen und seine Rolle im Politischen zu prüfen. Wir brauchen nicht lange suchen, denn wir kennen das deutsche Wort "Realpolitik", das unübersetzt in die europäischen Sprachen Eingang gefunden hat, und wir haben eine Vorstellung von "Moralpolitik", - auch ein deutsches Anliegen, das zu imitieren allerdings sich unsere Nachbarn reiflich überlegen.

Von Anfang an stehen sich die Welt der Prinzipien, schlicht der Moral, und die Welt, so wie sie ist, die Realität, unversöhnlich gegenüber. Die Redlichkeit, Berechenbarkeit, der Einklang mit Menschenrecht und Völkerrecht stehen nicht im luftleeren Raum. Moralische Politik ist schon so etwas wie ein Exportgut und soll wie ein Werbefeldzug für einen Nationalstaat außenpolitisch Punkte sammeln. Die skandinavischen Länder während der Krisen und Kriege Europas im 20. Jahrhundert gaben das Muster dafür ab. Im Deutschland nach 1945 waren auch die USA ein moralisches Aufräumkommando und schützten verlässlich vor Hunger und Rückfall in falsche Ideen.

Realpolitik dagegen macht wenig Wind nach außen und zielt mehr nach innen: sie ist wie ein Geschäftsführer mit dem Riecher für die günstigsten Abschlüsse. Die Welt ist hier nicht eingeteilt in gut und schlecht, sondern in Besitzer und Habenichtse, in preisgünstige und teure Güter. Die Handlungen richten sich nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Sie verspricht Rationalität im Verkehr mit der Welt. Wo die moralischen Regimes fürchten, ihre Seele zu verlieren, ihre Prinzipien zu verraten, wenn sie etwa mit bösen Inhabern von Rohstoffen oder Devisen Geschäfte machen, sich mit preisgünstigen Waren eindecken, hinter denen Sklavenarbeit oder Massenarmut steckt, gerade da greift der Realpolitiker zu und findet moralische Seelenpein fehl am Platze. Der Moralist bleibt nur rein, weil er sich von der Welt fernhält. Er muss sein Abstandhalten zu Krisenherden teuer bezahlen und gerät in immer größere Widersprüche: ein Mächtiger, der durch Abwesenheit glänzt, ist eine unhaltbare Position.

Soll man Herrn Putin nicht mehr die Hand geben, weil er es mit der Pressefreiheit in seinem Land nicht so genau nimmt, wo man doch Erdöl und Erdgas von dort beziehen muss?! Soll man den Regierungschef der Volksrepublik China nicht mehr empfangen, weil es im Reich der Mitte mit den Menschenrechten hapert, wo man es doch dringend als Export- und Investitionsraum braucht?! Auch den rohstoffhungrigen Moralisten wird bald nicht mehr stören, dass Saudi-Arabien eine der ärgsten Diktaturen der Erde ist. Wer auf der größten Ölblase sitzt und die westlichen Waffenrechnungen pünktlich und zu Höchstpreisen bezahlt, ist schwer umzuerziehen und kann sich allerhand erlauben – zum Beispiel islamistischen Glauben unter in Deutschland lebenden Moslems verbreiten.

Man sieht also, dass das Bestreben, Moralismus und Realpolitik jeweils in Reinkultur zu leben, in das gleiche Dilemma führt, wenn auch auf verschiedenen Wegen. In der Ausschließlichkeit beider liegt ein Verstoß gegen Lebensregeln, und so haben wir es immer schon mit einem Mischungsverhältnis zu tun. Den Politikmodellen ist immer noch eine Schlagseite nach der moralischen oder realistischen Richtung anzumerken.

Die USA haben noch nie einen realpolitischen, von Eigeninteressen geleiteten Akt gesetzt, ohne ihn mit hehren Prinzipien zu begründen und zu bemänteln. Die Vorzimmer der Macht sind damit beschäftigt, nationale Interessen bis hin zur Rohstoffversorgung mit universell gültigen Werten wie individuelle Freiheit, Menschenrecht, und Demokratie zur Deckung zu bringen. Doch eine Supermacht ist über jegliche Kritik erhaben.

Was den Moralismus gegenwärtig lähmt, ist seine Unfähigkeit, die Ziele seiner Handlungen auch nur annähernd zu erreichen, besonders dort, wo er sich das fest vorgenommen hat: es geht um die Kriegs- und Bürgerkriegsschauplätze im Nahen und Mittleren Osten, die erst mit dem Eindringen westlicher Heeresverbände ihrem grausamen Gipfel zustreben.

Die höchste und am weitesten reichende Form des politischen Moralismus ist nicht etwa das pazifistische Zuhausebleiben, ganz im Gegenteil: es ist die militärische Invasion zur Rettung und Befriedung einer Region, um Sicherheitsinteressen durchzusetzen, Bösewichter zu bestrafen und die Weltzivilisation dadurch insgesamt zu heben. Hätte sich das alles so erfüllt wie versprochen, wäre jeder Gedanke an Realpolitik für lange Zeit diskreditiert. Doch es wurden Kräfte aus ihrem Schlaf geweckt, die der Westen schon längst in eine Rumpelkammer der Sozialgeschichte verwahrt und abgehängt dachte: ihm schlagen unerwartet religiös und ethnisch aufgeladene Ressentiments entgegen.

Die These des Harvard-Professors Huntington wird in Deutschland ausschließlich kritisiert, doch nicht deswegen, weil sie falsch wäre, sondern weil sie die restlichen Illusionen aus der Zeit reiner Moralpolitik endgültig zerstört. Der Kampf der Kulturen ist ein Lehrmeister in Sachen Realität und keine Dialogübung in schlechtem Konferenzenglisch. Vielfalt ist kein Spaß. Wir müssen lernen, fremden Zungen zuzuhören, sie zu verstehen – und das ergäbe beinahe ein deutsches Pfingstwunder.

Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch