Realitycheck für Gesellschaftstheorie

25.06.2012
Vor zwei Jahren erregte die Philosophin Judith Butler, eine Ikone feministischer und schwul-lesbischer Theorie und Politik, Aufsehen: Sie stellte die Wirkung des Christopher Street Days (CSD) in Berlin infrage. Jetzt hat ihr Lutz van Dijk, Lehrer und Autor, aus Südafrika in Buchform geantwortet.
Vor ziemlich genau zwei Jahren, am 19. Juni 2010, erregte die Philosophin Judith Butler, eine der Ikonen feministischer und schwullesbischer Theorie und Politik, einen kleinen Skandal, als sie am Brandenburger Tor in Berlin den Preis für Zivilcourage ablehnte, den ihr die Organisatoren des CSD Berlin verleihen wollten, also der bunten, fröhlichen und hierzulande nicht übermäßig politischen Demonstration für die Rechte von Schwulen, Lesben und anderen sexuellen Minderheiten.

Der CSD sei ihr zu kommerziell und zu oberflächlich – die Organisatoren würden sich nicht in genügendem Maße von anderen Formen der Diskriminierung, insbesondere Rassismus, abgrenzen. In einer Rede an der Berliner Volksbühne über "Queere Bündnisse und Antikriegspolitik" hatte Butler am Vorabend ihre Position theoretisch breiter ausgeführt: Jeder Kampf einer diskriminierten Minderheit sei notwendig untrennbar verbunden mit dem Kampf anderer entrechteter Minderheiten. Der Versuch einzelner Gruppen oder Individuen, sich mit gesellschaftlichen Gegebenheiten zu arrangieren und sich in soziale Ordnungen zu integrieren, sei falsch, solange die Gesellschaft als ganze ungerecht bleibe.

Auf diesen politisch-moralischen Rigorismus, der von jedem Opfer irgendeiner Ungerechtigkeit den Kampf gegen alle Ungerechtigkeiten einfordert, hat nun der Autor und Aktivist Lutz van Dijk eine kleine, aber interessante Antwort verfasst; sie kommt weniger aus den Höhen der Theorie, als aus den Niederungen der Praxis.

Van Dijk lebt in Südafrika, und er kontert Judith Butlers Gesellschafts- und Minderheitenkritik aus afrikanischer Perspektive. Afrika hat eine traurige Bilanz der öffentlichen Gewalt gegen Homosexuelle und der rechtlichen Unterdrückung (von über 50 Ländern erkennt nur eines, Südafrika, die Rechte von Homosexuellen an), und allein schon diese Tatsache fordert eine ganze andere Sichtweise auf die von Judith Butler eingeforderte Solidarität zwischen diskriminierten Gruppen: Opfer von Diskriminierung und ungerechter Unterdrückung sind keineswegs immer bereit, sich mit anderen diskriminierten Gruppen zu solidarisieren.

Die für Butler zentrale Vorstellung, dass diskriminierte Gruppen natürliche Bündnispartner seien, wird von den vielen Verwerfungen zwischen religiösen und ethnischen Mehrheiten und Minderheiten widerlegt: christliche und muslimische Kleriker hetzen auf dem ganzen Kontinent gegen Homosexuelle (und gegeneinander), die Gewalt gegen sexuelle (und ethnische) Minderheiten grassiert – und die überwiegende Mehrheit der zum Schweigen gebrachten Unterprivilegierten, für die Butler auch die Stimme zu erheben beansprucht, ist zu sehr mit dem nackten Überleben beschäftigt, um sich für die Rechte von irgendwem zu kümmern, geschweige denn aktiv einzusetzen.

Van Dijks Argumentation bewegt sich keineswegs auf dem intellektuellen Niveau von Judith Butlers Ausführungen (die der Männerschwarmverlag ebenfalls veröffentlicht hat). Sie sind aber in der Art, wie sie die idealistische linke Gesellschaftskritik in eine globale Perspektive stellen und hinterfragen, trotzdem ziemlich erhellend. Sozusagen ein kleiner Realitycheck für eine allzu abgehobene Theorie, die sich diese durchaus zu Herzen nehmen sollte.

Besprochen von Catherine Newmark

Lutz van Dijk: Ist Liebe ein Menschenrecht? Zur Bündnisfrage von Minderheiten und Mehrheiten. Eine südafrikanische Antwort auf Judith Butlers "Berliner Rede"
Männerschwarm Verlag, Hamburg 2011
48 Seiten, 6,00 Euro
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