Re-Education

Mit Pop zur Demokratie

Die beste Medizin gegen tumbe Deutschtümelei: Ausflippende Beatles-Fans.
Die beste Medizin gegen tumbe Deutschtümelei: Ausflippende Beatles-Fans. © imago/stock&people
Von Matthias Dell · 22.07.2015
Pop- und Jazzmusik hätten nach dem Krieg mehr zur Entnazifizierung beigetragen als irgendwelche Bildungsprogramme oder Filme, behauptet der Poptheoretiker Frank Apunkt Schneider. Die Popmusik schaffe Projektionsflächen für Jugendliche - und Sehnsuchtsorte.
Filmkritiker Michael Althen: "Man muss ja sagen, dass meine Generation nicht im deutschen Kino eine Heimat gefunden hat, sondern sich in Paris zu Hause fühlte und in Amerika, also dass man im Grunde bei so amerikanischen Filmen schon einen gewissen Phantomschmerz verspürt, also die Sehnsucht nach einer Jugend, die man gar nicht gehabt hat, die man nur im Kino dort gehabt hat."
Erzählte der Filmkritiker Michael Althen einmal über die eigene Kinosozialisation. Althen, Jahrgang 1962, gehörte nicht zur ersten Nachkriegsgeneration. Aber gerade an dem eher melancholischen als rebellischen Weltbezug seiner Münchner Vorstadtjugend kann man den Siegeszug einer angloamerikanisch geprägten Popkultur in der Bundesrepublik nach 1945 erkennen. Die Filme und Songs, Stile und Produkte, die vor allem aus den USA nach Westdeutschland kamen, leisteten - ziemlich unpädagogisch - ihren Beitrag zur deutschen Demokratisierung bis in die 70er- und 80er-Jahre hinein.
"Entnazifizierung durch Pop"
"Reedutainment" nennt der Bamberger Poptheoretiker Frank Apunkt Schneider das in seinem gerade erschienenen Essay "Deutschpop halt's Maul" – eine "Entnazifizierung durch Pop". Nicht nur eine, sondern die wichtigste: Schneider spricht gar von der wirklichen Stunde Null, die für die Jugendlichen erst durch das Erscheinen von Pop in Deutschland markiert wird.
Schneider: "Und plötzlich wird dieser Deckel weggesprengt und sie sehen plötzlich die Welt, und Pop erzählt ihnen davon, wie es woanders ist, dass es woanders interessanter spannender, schöner, natürlich auch reizvoller, sexuell reizvoller ist vielleicht."
An die Stelle verfestigter Nazi-Ideologie treten austauschbare popkulturelle Moden. Pop ist für die Reeducation also Medium, Träger, Treibmittel.
Schneider: "Die Hefe, nee, die Projektionsfläche oder das, wovon Pop erzählt, Pop schafft Projektionsflächen."
Und Sehnsuchtsorte.
Schneider: "Liverpool, Swinging London, San Francisco, Memphis, die 52. Straße in New York oder New Orleans für Jazz-Fans."
An denen mental gelebt wird. Die popsozialisierten Jugendlichen basteln sich eine eigene Welt, das Hören von Musik ist nicht nur Zeitvertreib, sondern politisches Bildungserlebnis: Im transnationalen Pop wird das bis 1945 so erbittert Deutsche sich selbst fremd.
Schneider:"Die Bezugnahme auf das woanders Entstandene ist ja erst mal der Motor von Popkultur, dass sich Dinge durch Aufgreifen verändern."
Der Tanzmusikkrieg
Das Reedutainment ist aber nicht nur Spiel der freien Kräfte von Markt und Begehren, in dem die jugendlichen Konflikte mit Autoritäten wie Eltern, Lehrer, Chefs durch den Kauf von Schallplatten ausgelebt werden. Gleich nach der Befreiung Deutschlands wird überlegt, wie Musik bei der Demokratisierung helfen könnte. Der Berliner Kulturhistoriker Bodo Mrozek:
"Die Amerikaner haben schon 1946 herausgefunden, dass die jüngere Generation dem Jazz gegenüber aufgeschlossen ist. Und weil man den Jazz für eine demokratische Musik hielt, gab es verschiedene Versuche, unter anderem im NWDR das Jazzstudio von Christian Törsleff, wo man die Deutschen mit Nachhilfe in Jazz zur Demokratie führen wollte."
Das gelingt noch nicht sofort, es kommt laut Mrozek zum "sogenannten Tanzmusikkrieg, weil Hörerzuschriften sich bitterlich beschwert haben über das, was ihnen als Urwaldmusik erschien, und das war natürlich die ältere Generation, die Geschmacksvorlieben auch noch im Nationalsozialismus entwickelt hat."
Neue Weltbilder, neue Wohnlandschaften
Ende der 50er-Jahre findet der Pop schließlich nach Deutschland. Eine wichtige Rolle für die Verbreitung spielt dabei neben Live-Musik und Schallplatten mit anfangs eingedeutschten Hits der Rundfunk. Kulturhistoriker Mrozek:
"Auch bis hin in die Wohnungen hinein, wo durch neue Abspielgeräte im Zuge der Transistorisierung eine mediale Aufrüstung stattfindet und wo die Jugendzimmer sich durch Bravo-Poster inzwischen zu popaffinen Wohnlandschaften umwandeln, also Pop schafft in dieser Zeit neue Räume, neue Praktiken."
Kurz: neue Weltbilder.
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