Rauschgift

Argentiniens neue Drogenpolitik

Blick über die Dächer von Buenos Aires, Argentinien, aufgenommen bei wolkigem Himmel am Montag
Blick über die Dächer von Buenos Aires © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Victoria Eglau  · 19.11.2014
Laut UNO ist Argentinien der drittgrößte Kokain-Exporteur - nach Kolumbien und Brasilien. Und auch beim Drogenkonsum hat das Land ein echtes Problem, nicht nur in der Unterschicht. Nun werden neue Strategien im Kampf gegen die Drogensucht erprobt.
Vicente Lopez – ein Vorort von Buenos Aires mit adretten Einfamilienhäusern und Gärten. In dieser bürgerlichen Gegend ist in einer Villa die private Drogentherapie-Einrichtung Aylen untergebracht.
Es ist Montagmorgen, neun Uhr. Wie zu Beginn jeder Woche findet das Gruppentreffen aller Suchtpatienten statt. Etwa vierzig gut gekleidete junge Frauen und Männer setzen sich auf Stühle, die im Kreis aufgestellt sind, und werden vom Therapeuten begrüßt. Guillermina Lopez ist 34 Jahre alt, hat zwei Kinder, und kam nach zwei Selbstmordversuchen in die Therapieeinrichtung.
"Vorher hatte ich fünf Jahre lang täglich Kokain genommen. Es war wie ein langsames Sterben. Die Mitarbeiter dieser Einrichtung haben mir geholfen, meine Bindungen zu meiner Familie und zu meinen Kindern wiederherzustellen und – was am schwierigsten ist – wieder zu leben lernen!"
Das wachsende Drogenproblem ist in Argentinien ein allgegenwärtiges Thema. Tagtäglich berichten die Medien über den Rauschgiftschmuggel aus anderen südamerikanischen Ländern, über Kokain-Küchen und Morde im Milieu der Drogenbanden. Mit dem Rauschgifthandel ist in den vergangenen Jahren auch der Konsum gestiegen. In Lateinamerika sind es die Argentinier, die am meisten Drogen konsumieren.
Die Stiftung Aylen gehört zu den angesehensten Drogentherapie-Einrichtungen in Argentinien. Vor zwei Jahrzehnten war sie die erste, die eine rasche soziale Wiedereingliederung der Abhängigen zum Hauptziel ihrer Arbeit machte – wie der Patientenbetreuer Nicolás Teper erklärt.
"Die Süchtigen werden bei uns so kurz wie möglich stationär behandelt, und kehren möglichst schnell schrittweise in ein selbstständiges Leben zurück. Nach der stationären Phase schlafen die Patienten wieder zuhause und leben nur tagsüber in der Einrichtung. Später kommen sie dann nur noch zu den Therapie-Terminen."
Drogenprävention beginnt bereits im Kindesalter
Noch heute werden Drogensüchtige in Argentinien zum Teil jahrelang in geschlossenen Einrichtungen behandelt – meist isoliert auf dem Land. Nach der Therapie ist die Rückkehr in ihr städtisches Lebensumfeld problematisch, oft kommt es zu Rückfällen. Aber, sagt Carlos Souza, der Gründer der Stiftung Aylen:
"Die Praktiken der Drogentherapie werden in Argentinien seit einiger Zeit überdacht. Einige Einrichtungen haben sich erneuert – andere bisher nicht. Dabei müssten sich die Therapiezentren an eine Gesellschaft anpassen, in der Drogen viel präsenter sind als früher. Es werden neue Behandlungsformen, Ziele und Werkzeuge gebraucht."
In Bajo Flores, einem Elendsviertel in Buenos Aires, beginnt Drogenprävention bereits im Kindesalter. Bajo Flores ist eine wildwuchernde Siedlung mit rund fünfzigtausend Bewohnern. Die meisten sind jung – der Altersdurchschnitt in den Armenvierteln ist mit 24 Jahren viel niedriger als im Rest der Stadt. Hier ist fast keiner krankenversichert, die kostenlose staatliche Gesundheitsversorgung mangelhaft. Jahrzehntelang glänzte der Staat in den Armenvierteln völlig durch Abwesenheit, allein die Kirche leistete soziale Arbeit.
Das katholische Gemeindezentrum ist ein schlichter Bau mit einem Hof und einem kleinen Glockenturm. An diesem Nachmittag trifft sich die Kinder-Malgruppe. Rund tausend junge Bewohner des Elendsviertels nehmen regelmäßig an den Freizeitangeboten der Kirche teil: Fußball, Musik, Hausaufgabenhilfe und Ferienlager.
Die Innenstadt von Buenos Aires bei Nacht mit ihren ganz eigenen Bewohnern. - Ein Polizist im Gespräch mit Obdachlosen.
Ein Polizist spricht mit Obdachlosen in Buenos Aires© dpa / Mika Schmidt
Drogen werden fast an jeder Ecke angeboten
"Wir glauben, dass man schon bei den Kleinsten mit der Drogenvorbeugung beginnen muss. Sie müssen lernen, auf sich aufzupassen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Wir müssen ihnen zeigen, wem sie vertrauen können und wem nicht",
sagt Gustavo Carrara, der zu seinem Priesterhemd eine Jeans trägt. Der bärtige Seelsorger leitet die katholische Gemeinde in Bajo Flores. Prävention heißt in dem Elendsviertel vor allem eins: die Kinder und Jugendlichen von der Straße holen. Denn Drogen werden quasi an jeder Ecke angeboten – auch das zerstörerische Paco, ein Abfallprodukt der Kokainherstellung, das billig verkauft wird, aber in kürzester Zeit hochgradig abhängig macht.
Pater Gustavo ist Armenpriester – einer von zwei Dutzend, die in den Elendsvierteln von Buenos Aires leben und arbeiten. Zwanzig solcher Viertel gibt es hier: schwarze Flecken auf dem Stadtplan, die als Hochburgen des Drogenhandels gelten. Lange Zeit fehlten staatliche Anlaufstellen für Abhängige. Es waren die Armenpriester, die den Kampf gegen die Drogensucht aufnahmen.
"Die meisten Jugendlichen hier sind von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Droge ist nicht ihr einziges Problem. Wenn sie es schaffen, clean zu werden, haben sie immer noch eine Menge anderer Probleme: keinen Schulabschluss, keine Berufsausbildung, keine gute Gesundheitsversorgung. Also unterstützen wir die jungen Leute in allen Lebensbereichen, helfen bei der Suche nach Arbeit, nach Ärzten, einer Wohnung und bei ihrer Ausbildung."
Gustavo Carrara wird von einem großen Helfer-Team unterstützt, zu dem Psychologen und ehrenamtliche Jugendbetreuer gehören.
Die Straße ist das Terrain der Dealer
Der zwanzigjährige Hugo Portillo ist unterwegs im Bajo Flores – dem Viertel, in dem er aufgewachsen ist. Heute besucht er das Priesterseminar und arbeitet als eine Art Streetworker. Hugo läuft über Schotterwege, vorbei an Schuhkarton-ähnlichen Ziegelsteinbehausungen, in denen Großfamilien auf engstem Raum zusammenleben. Er versucht, mit den Jugendlichen des Viertels ins Gespräch zu kommen.
"Viele Kinder und Jugendliche haben zuhause kein eigenes Zimmer. Sie wissen nicht, wohin mit sich. Und sie fühlen sich diskriminiert, weil sie aus einem Elendsviertel stammen. Oft tun sie deshalb genau das, was sie für ihre Bestimmung halten: nämlich auf der Straße rumgammeln."
Die Straße aber ist das Terrain der Dealer. In ganz Argentinien, vor allem in den Elendssiedlungen, sind Drogenbanden aktiv. Aus Peru und Bolivien schmuggeln sie Kokain ins Land, zum Teil wird der Herstellungsprozess hier beendet. Aus Paraguay kommt Marihuana illegal über die Grenze. Argentinien ist gleichzeitig Transit- und Konsumland. In den Armenvierteln rekrutieren die Banden ihre Dealer. Weil er den Drogenverkauf an junge Leute anprangerte, wurde einer der Armenpriester vor wenigen Jahren mit dem Tode bedroht. Davon lässt sich Hugo Portillo nicht abschrecken:
"Wir wissen, dass die Jugendlichen, die draußen herumlungern, auf eine Chance warten, und wir wollen sie ihnen anbieten. Drogen sind für viele ein Betäubungsmittel, wenn sie keinen haben, mit dem sie über ihre Probleme und Ängste sprechen können. Wer Leute findet, die ihm zuhören, braucht meist keine Drogen."
Die Anti-Drogen-Arbeit der katholischen Armenpriester wird in Argentinien allgemein anerkannt und mittlerweile vom Staat materiell unterstützt. Abhängige bringt die Kirche in eigenen Einrichtungen unter, oder sie hilft ihnen, einen vom Staat bezahlten Therapieplatz zu bekommen.
"Von den Jungs, die ich kannte und die Paco rauchten, sind viele nicht mehr da. Einige sind gestorben, andere wurden ermordet. Viele wollen ja den Ausstieg schaffen, aber es ist sehr schwer, die körperliche Abhängigkeit zu überwinden."
Therapeuten machen gute Erfahrungen mit Wohngemeinschaften
Pedro Riveros sitzt allein im kleinen, bunten Kirchenraum von Bajo Flores. Pedro war selbst nicht Paco-süchtig, sondern konsumierte Alkohol, Tabletten und Marihuana. Heute betreut er andere Suchtkranke und lebt mit ihnen in einer von der Kirche unterhaltenen Wohngemeinschaft.
"Früher hab ich selbst in Bajo Flores gewohnt, aber clean zu werden, ist hier schwierig, denn die Drogen sind allgegenwärtig. Als ich aus der stationären Therapie kam, sagten die Priester deshalb zu mir: 'Du solltest nicht mehr im Armenviertel leben.' Seitdem teile ich mir in einem anderen Stadtteil von Buenos Aires eine Wohnung mit vier Jugendlichen. Wir sind alle im Entzugsprozess, und ich leite unsere WG."
Einrichtungen wie die Wohngemeinschaften der Kirche, die ein Zwischenglied zwischen stationärer Therapie und selbstständigem Leben sind, hält Paula Goltzman für vorbildlich. Der Staat sollte sich an ihnen ein Beispiel nehmen, meint die Expertin einer auf das Thema Drogen spezialisierten Forschungsstiftung in Buenos Aires.
"Die stationären Therapiezentren privater Anbieter werden der Drogensituation in Argentinien zum Teil nicht mehr gerecht. Junge Abhängige, die in den Elendsvierteln auf der Straße leben, halten es in einer geschlossenen Einrichtung meist nicht lange aus und werden rückfällig. Lange Zeit überließ der Staat die Behandlung Suchtkranker einfach privaten Anbietern, doch heute muss er selbst neue Antworten auf das Drogenproblem finden. Es fehlen Alternativen zur stationären Therapie, und es fehlen staatliche Anlaufstellen in den Armenvierteln."
Villa Fátima ist ein anderes Armenviertel von Buenos Aires, zum Verwechseln ähnlich mit Bajo Flores. Dort macht Ana María Volpato eine Stippvisite – sie koordiniert in der Stadtregierung von Buenos Aires die Hilfe für Suchtkranke. Die mollige Funktionärin besichtigt ein Tageszentrum für Drogenabhängige und deren Familien, das die Stadt in diesem Jahr eröffnet hat. Das neue und blitzsaubere kleine Gebäude mit einer Kapazität für 25 Jugendliche wirkt in der heruntergekommenen Umgebung wie ein Fremdkörper.
"Die Jugendlichen sollen hier das Gefühl bekommen, dass sie uns nicht gleichgültig sind. Manche glauben schon mit zwölf Jahren, ihr Leben sei gelaufen. Wir wollen ihnen helfen, optimistischer in die Zukunft zu blicken. Schwierige Fälle weisen wir zwar in eine geschlossene Anstalt ein. Aber wenn die Jugendlichen entlassen werden, können sie jeden Tag in dieses Zentrum kommen. Das Ziel ist, ihnen hier in ihrem Lebensumfeld zu helfen."
Das Tageszentrum für Süchtige in Villa Fátimazeigt, dass der argentinische Staat zumindest an einigen Orten begonnen hat, mit neuen und flexibleren Instrumenten auf die Drogenproblematik zu reagieren. Ana María Volpato berichtet von zwölf solcher ambulanten Sucht-Behandlungsstellen, die die Stadtregierung in den letzten Jahren in Elendsvierteln eröffnet habe.
"Meine Söhne sollen eine Zukunft haben"
Mittwochs ist Mütterberatung im Tageszentrum von Villa Fátima. Heute ist Vanessa Lodueño gekommen, eine kleine, kurzhaarige Frau, die im Viertel als Straßenkehrerin arbeitet. Sie wirkt nervös und mitgenommen:
"Ich bin hier, weil zwei meiner Söhne drogenabhängig sind. Sie sind sechzehn und achtzehn. Der Achtzehnjährige war in stationärer Therapie, drei Jahre sollte sie dauern. Aber nach acht Monaten wollte er raus und hat die Behandlung abgebrochen. An einem Freitag wurde er entlassen, an einem Samstag hat er sich mit Drogen voll zugedröhnt. Es war furchtbar, ihn so zu sehen."
Vanessa Lodueño hatte im vergangenen Jahr einen Schlaganfall – mit 38. Man glaubt ihr sofort, wie anstrengend das Leben mit zwei suchtkranken Söhnen und vier weiteren Kindern ist. Aus dem müden Gesicht der Frau spricht die Hoffnung, dass sie in der neuen Tageseinrichtung vielleicht Hilfe für ihre Söhne finden wird.
"Ich habe Angst, sie zu verlieren. Deshalb suche ich eine Lösung. Meine Söhne sind noch jung, sie sollen eine Zukunft haben."
In der Villa der bürgerlichen Drogentherapie-Einrichtung Aylen weiß Gründer Carlos Souza um die himmelweiten Unterschiede bei der Versorgung von Suchtkranken in Argentinien_
"Es sind zwei Welten. Unsere Patienten haben meist ein gutes Bildungsniveau und eine Familie, die sie unterstützt. Das erhöht ihre Chancen auf Heilung. Für Jugendliche aus den Armenvierteln ist der Ausstieg viel schwieriger, weil den meisten eine Zukunftsperspektive fehlt – und damit ein Grund, clean zu werden. Eins steht jedenfalls fest: ich denke, der argentinische Staat müsste unsere Grenzen viel besser kontrollieren, damit keine Drogen mehr ins Land kommen."
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