Raus aus dem Schleier

Von Gerd Brendel · 13.02.2013
Der Alltag indischer Frauen, besonders auf dem Land, ist oft geprägt von frauenfeindlichen Traditionen. Es gibt viele traurige Geschichten, manche machen trotzdem Mut – wie die der Politikerin und Schriftstellerin Salma. Die britische Regisseurin Kim Longinotto hat einen Dokumentarfilm über sie gedreht.
Die Frau, die alle nur mit ihrem Künstlerpseudonym Selma ansprechen, sitzt auf dem Hotelbett und hat ein Bein untergeschlagen. Den Sari hat sie gegen Jeans eingetauscht, nur der große Schaal erinnert an das das traditionelle Gewand, das sie im Film trägt. In der westlichen Kleidung wirkt sie mit Anfang 40 eher wie eine Langzeit-Studentin als eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Südindiens.

"”Salmas Geschichte, war perfekt für mich. Sofort fühlte ich mich wie ihre große Schwester. Obwohl ich älter bin sagt sie wo es langgeht, wenn wir zusammen reisen und oft kommt sie mir unglaublich weise vor.""

Sagt die Dokumentarfilmerin Kim Longinotto auf dem Bett gegenüber. Sie hatte das Gefühl, Salmas Geschichte einfach erzählen zu müssen. Eine Geschichte, die da anfängt, wo das Leben vieler muslimischer Mädchen in den Dörfern von Tamil Nadu aufhört, weil sie von ihren Familien nach ihrer ersten Periode weggeschlossen werden.

In Longinottos Dokumentarfilm kehrt Salma zurück in ihr Elternhaus, wo alles anfing.

Filmausschnitt: "Da dieses vergitterte Fenster war mein einziger Zugang zu der Welt draußen, wenn es an der Tür klingelte hieß es ‚ Achtung Männer!‘ und ich musste mich verstecken."

Das erzählt Salma so beiläufig, als würde sie von einer entfernten Bekannten erzählen. Ihr Schicksal teilen bis heute viele. Von einem Tag auf den anderen werden muslimische Mädchen zu Gefangenen im eigenen Elternhaus: Keine Schule mehr, kein Kino, keine Besuche bei Freundinnen, nichts – nur warten bis zur Hochzeit, die von den Eltern oft schon Jahre im Voraus arrangiert worden ist. Aber Salma weigert sich. Erst als ihre Mutter einen Herzanfall vortäuscht, willigt sie in die Hochzeit ein.

Aber auch nach der Hochzeit bleibt die Welt draußen für die junge Ehefrau tabu. Salma liest alles, was ihr in die Hände fällt, von Reklame bis zu alten Zeitungsschnipseln und sie fängt an zu dichten: Ihr Mann nimmt ihr die Notizbücher ab, beschimpft sie, droht ihr, aber sie schreibt heimlich weiter.

Filmausschnitt: "Wenn nicht heute dann morgen, wenn nicht morgen, dann irgendwann, so kam mir das Leben immer vor, seit dem Morgengrauen der Erinnerung. Warten."

Das alles erzählt Salma vor laufender Kamera - nüchtern, ohne anzuklagen.

In einer Szene sieht man die beiden Eheleute auf einer Sofabank. Der Film denunziert nicht, sondern zeigt Eltern, den Ehemann, die Schwiegermutter und Verwandte selbst als Gefangene eines jahrhundertealten Systems.

"Salmas Schwester sagt zum Beispiel: Wir könnten uns nie gegen das Dorf stellen. Damit ist eine Einstellung in den Köpfen gemeint - das DORF, das größer als sie alle ist und dem sich alle unterwerfen."

Indem sie sie selbst war und niemals aufgab, hat sie die Leute um sich herum verändert. Genau das zeigt Longinotti mit ihrer Kamera.

"”Was wirklich außergewöhnlich ist, ist die Tatsache, dass Salma ihre Familie verändert und sie mit genommen hat. Gegen Ende des Films sieht man zum Beispiel, wie ihr Vater ein bisschen behutsamer mit seiner Frau umgeht.""

Bis es soweit kommt, dass der Vater selbst in der Küche das Teewasser aufsetzt, muss Salma erst zur öffentlichen Person werden. Ein Verleger, dem sie ihre Texte heimlich geschickt hat, veröffentlicht ihre Gedichte.

"”Diese Gedichte brechen mit einem Tabu und zeigen eine Welt, über die vorher keine einzige Frau geschrieben hat.""

Als Salma einem Lokalreporter gestattet, ein Bild von ihr zu machen, hat das Warten auf die Welt ein Ende. Sie wird zu Talk-Shows eingeladen, gibt Interviews. Ihr Ehemann, der ihr bis vor kurzem keine zwei Schritte ohne den traditionellen Ganzkörperschleier vor die Haustür gestattete, sorgt dafür, dass seine Frau zur Dorfvorsteherin gewählt wird. Und als bei der nächsten Wahl ihre Partei die Mehrheit im Landesparlament von Tamil Nadu gewinnt, wird Selma in eine Regierungskommission für Frauenfragen berufen.

"”Ich hab‘ eine Menge Bildungsarbeit gemacht gegen Abtreibungen von Mädchen, Kinderhochzeiten und häusliche Gewalt.""

Salma zieht mit ihren beiden Söhnen und ihrer Schwester in die Hauptstadt nach Chennai- Madras. Auch wenn sie ihren Posten nach der letzten Wahl verloren hat, kämpft Salma weiter in ihrer Partei, mit einer eigenen NGO und in der eigenen Familie. In einer Filmszene sieht man Salma mit ihrer Nichte, die demnächst verheiratet werden soll.

"Ich will, dass Fatima das hat, was ich nicht hatte, ich will dass sie lernen kann und frei ist. Sie hat die gleichen Träume wie ich. Fatima ist mein Leben."

Der Film hat ihrer Familie übrigens gut gefallen, nur ihre beiden Söhne beklagten sich, dass man sie in einer Szene sieht, wie sie desinteressiert mit ihren Smartphones spielen, während ihre Mutter ihnen eines ihrer Gedichte vorliest.

Salmas Kampf geht weiter, aber sie kämpft nicht mehr alleine. Ihre "große Schwester" im fernen England hat aus ihrer Geschichte einen Film gemacht, der eine sanfte Rebellin zeigt, die gerade deswegen so überzeugend ist.