Rasantes Volkstheater

Von Andrea Gerk · 29.01.2013
In seiner ersten Inszenierung am Deutschen Theater versammelt Regisseur Milan Peschel hervorragende Schauspieler auf der Bühne. Doch er will zu viel mit seinem Stück, es fügt sich zu keinem stimmigen Gesamtbild - und das lässt den Zuschauer seltsam unbeteiligt zurück.
In der irischen Familie Boyle herrschen Lebensumstände, die man heutzutage wohl als Prekariat bezeichnet: Der Vater, Käptn Jack Boyle, ist ein arbeitsloser Säufer, der am liebsten mit seinem etwas verrückten Freund Joxer herumhängt und seine tüchtige Frau Juno für sich arbeiten lässt.

Der gemeinsame Sohn Johnny ist kaum 20 und schon für immer vom Bürgerkrieg gezeichnet: Einen Arm hat er verloren, er humpelt und ist schwer traumatisiert. Seine Schwester Mary verliebt sich in den falschen Kerl, der sie am Ende mit einem unehelichen Kind im Bauch sitzen lässt.

Als die Boyles eines Tages eine vermeintlich große Erbschaft machen, bricht umgehend der große Konsumrausch aus - noch auf Pump werden neue Möbel und Kleider gekauft und fröhliche Partys gefeiert, während der im Bürgerkrieg umgekommene Sohn der Nachbarin gerade zu Grabe getragen wird.

Als sich schließlich herausstellt, dass das Testament wegen eines Formfehlers hinfällig ist und der große Geldsegen ausbleiben wird, ist die ohnehin schon zerrüttetete Familie längst heillos verschuldet und zerbricht vollends.

In seiner ersten Inszenierung am Deutschen Theater Berlin versetzt Milan Peschel sein Ensemble in eine fragmentarische Wohnlandschaft: Bühnenbildnerin Magdalena Musial legt Sperrholzplatten und billige Teppichstücke aus, in der Mitte steht ein Ofen, dessen Rohr im Nichts endet. Um dieses Zentrum herum spielt sich eine hochtourige Komödie ab, ein Hysterienspiel, das zum Teil an die Spielweise bei Rene Pollesch erinnert. Stimmen überschlagen sich, Schauspieler stolpern in slapstickartige Einlagen durch die Szenerie – rasantes Volkstheater, bei dem das Elend weggelacht werden soll, anstatt darin unterzugehen.

In einzelnen Szenenfolgen funktioniert dieses Konzept sehr gut, nicht zuletzt Dank der hervorragenden Schauspieler. Michael Schweighöfer gibt den versoffenen Jack Boyle in einer Mischung aus larmoyantem Träumer und chauvinistischem Faulenzer; Moritz Grove als Joxer sieht aus wie ein jugendlicher Wiedergänger seines Regisseurs Milan Peschel und spielt die prollig-poetische, manchmal melancholische Seite dieses Looser-Typen mit großer Überzeugungskraft und Komik. Anita Vuesica als pragmatische Juno und Katrin Wichmann als ihre Tochter Mary bleiben mehr dem psychologischen Realitätsprinzip treu, was ein gutes Gegengewicht zu ihren verkommenen Männern bildet.

Doch trotz der großartigen Schauspieler und vielen wunderbarer Regieeinfällen fügt sich diese Inszenierung zu keinem wirklich stimmigen Gesamtbild. Und das nicht etwa, weil hier zu wenig passiert und interpretiert wird, sondern eher zu viel. So spielen die Kostüme auf einen billigen Schick an, den man mit Osteuropa assoziiert, zugleich verweist der Text selbst immer wieder auf das Irland der 20er Jahre und dazu laufen Elvis-Hits, die 50er- und 60er-Jahre-Sound verbreiten.

Die Charaktere sind sympathische Widerlinge, vielgesichtig und undurchschaubar wie Menschen eben sind. Das ist richtig und intelligent durchdacht. Doch auf einer Bühne löst diese Art von Unentschiedenheit erstaunlicherweise ein Gefühl des Unbeteiligtseins aus. Man schaut von einem menschlichen Abgrund in den nächsten und bleibt doch seltsam unberührt.

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