Ralf Lappert: "Über den Winter"

Zuviel des gut Gemeinten

Flüchtlinge auf der Straße in Hamburg.
Flüchtlinge auf der Straße in Hamburg. © Daniel Bockwoldt
Von Gerrit Bartels · 08.10.2015
Die Geschichte eines Künstlers, der sich, inmitten einer Lebenskrise, mit dem Schicksal der nach Deutschland fliehenden Menschen konfrontiert sieht. Ist der Roman von Ralf Lappert vielleicht daher auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet?
Wer mit dem Lesen von Rolf Lapperts Roman "Über den Winter" beginnt, fragt sich zunächst: Wann hat der Schweizer Schriftsteller sein Buch eigentlich geschrieben? Gerade, eben, jetzt? Oder hat er, wovon auszugehen ist, vor ein, eher zwei oder drei Jahren damit begonnen? Unweigerlich schieben sich nämlich beim Lesen des langen Romanprologs mit dem Titel "Lost Bagage" die Bilder der Flüchtlingskatastrophe der vergangenen Wochen vors geistige Auge: die des toten Jungen am Strand, die der vielen Menschen, die mit ihren wenigen Habseligkeiten auf irgendwelchen Booten sitzen und gerade gerettet worden sind.
Ein toter Säugling am Strand
Lapperts Held, der 49 Jahre alte Künstler Leonard Salm, befindet sich gerade in einer Villenkolonie an irgendeinem Strand, vermutlich irgendwo in Afrika, der Ort wird nicht genannt. Salm ist hier, um Strandgut für seine nächste Installation zu sammeln, um die vielen angeschwemmten Dinge, die mutmaßlich von ertrunkenen Bootsflüchtlingen stammen, dem Verschwinden zu entreißen und sie in Bleibendes zu verwandeln. Als er aber einen toten Säugling findet und zudem die Nachricht erhält, dass seine ältere Schwester gestorben ist, gerät der sowieso an seinem künstlerischen Tun zweifelnde Salm endgültig in eine Krise. Er reist nach Hamburg zur Beerdigung, trifft auf seine zwei Geschwister Bille und Paul sowie seine getrennt voneinander lebenden Eltern und zieht schließlich zu seinem Vater und dessen polnischer Pflegekraft, um sein Leben zu ändern.
Aus dem Roman über einen Künstler in der Krise, der gleichzeitig ein Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise ist, wird – zumindest passagenweise – ein handfester Familienroman: Rolf Lappert blendet zurück, erzählt die Lebensgeschichte von Salms Vater und Mutter und wie sie zusammengekommen sind, und er porträtiert Bille, Salms jüngere, immer noch leicht flippige Schwester, das aber immer über Bande, mit den Augen seines Heldens.
Autor übt sich in einem enervierenden Beschreibungsfuror
Lappert ist ein Schriftsteller, der gern lange erzählerische Atemzüge macht, der sich Zeit nimmt – und der, das deuten die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zitate an, seine Vorbilder vor allem in der angloamerikanischen Literatur hat, John Updike, Nicole Krauss, Philip Roth, David Mitchell. "Über den Winter" hat manchmal eine schöne Wucht und schöne Dramatik, gerade wenn es um die Binnenspannungen in der Familie von Salm geht. All zu oft schießt Lappert aber übers Ziel hinaus und übt sich in einem enervierenden Beschreibungsfuror: Jedes Zimmer, das Salm betritt, und sei es noch so unwichtig für die Geschichte, wird mit all seinen Einrichtungsgegenständen detailliert beschrieben, jeder Kellerraum, jeder Koffer, den er öffnet – Aufzählungen über Aufzählungen.
Fragt man sich an diesen Stellen, wozu das dienen soll, winkt Lappert in anderen Passagen des Romans allzu deutlich mit dem berühmten Zaunpfahl. Denn nicht nur, dass Salm selbst bei einem Allitalia-Flug seines Gepäckes verlustig geht, das am Ende endlich von der Flugesellschaft wiedergefunden wird; nein, ständig hat er Begegnungen mit sogenannten einfachen Leuten, mit Taxifahrern, die wahlweise, das erkennt Salm an den Fähnchen, die am Armaturenbrett hängen, aus Libyen oder Syrien kommen, mit Obdachlosen, mit Hotelportiers mutmaßlich aus dem Maghreb, mit einem Bauern, der seinen Hof aufgeben muss, mit einem Friseur, der in seinem immer weniger frequentierten Salon herumsteht und Salm erzählt, dass er gerade eine syrische Flüchtlingsfamilie bei sich zuhause aufgenommen hat.
Hier also der Künstler, der fast 50 Jahre alte Mann in der schweren Mittellebenskrise, der wieder runter auf den Boden kommen, sein Leben ändern will. Und dort überall die Zeichen des prekären Daseins, des Elends, der Migrationsbewegungen, die Salm wahrnimmt. Unmittelbar Folgen für seine Handlungen in diesem Winter (den Lappert natürlich auch in seinen täglich wechselnden Schattierungen beschreibt), haben diese Zeichen zwar nicht, doch suggerieren sie: In der Welt läuft etwas gewaltig schief. Das alles ist doch zuviel des guten Aktuellen, des gut Gemeinten, des drängenden Stoffes, des Bedenkenswerten – hat jedoch "Über den Winter" vermutlich direkt auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises katapultiert.

Rolf Lappert: Über den Winter. Roman
Hanser Verlag, München 2015
383 Seiten, 22, 90 Euro

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